Scholz räumt Vertrauenskrise ein – Europawahl „war ein Einschnitt“

Wie soll auf das Ergebnis der Europawahl reagiert werden? Der Kanzler nimmt Stellung in seiner Regierungserklärung.
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„Wir müssen dort, wo Zuversicht fehlt, sie neu begründen“, sagt Kanzler Olaf Scholz.Foto: Michele Tantussi/Getty Images
Epoch Times26. Juni 2024

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat eine Vertrauenskrise in der deutschen Politik eingeräumt. „Ständige Krisenerfahrungen haben Vertrauen erschüttert, das kann man gar nicht anders sagen“, sagte Scholz am Mittwoch in einer Regierungserklärung im Bundestag in Berlin.

Die Bürger hätten bei der Europawahl am meisten eine Partei gewählt, die die europäische Perspektive infrage stelle, so der Kanzler. „Ich sage es ganz klar: Europa ist für Deutschland eine zentrale nationale Aufgabe.“

Scholz bezeichnete das Ergebnis der Europawahl, bei der seine Partei ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren hatte, als „Einschnitt“: Das Ergebnis habe gezeigt, „dass ganz offenbar angesichts all der vielen Krisen vielen die Zuversicht abhandengekommen ist“ sagte er. „Wir müssen dort, wo Zuversicht fehlt, sie neu begründen.“

Scholz: Haushaltsentwurf kommt im Juli

Eindringlich warnte der Kanzler vor Verteilungsdebatten – der Schwerpunkt müsse viel eher auf der Konjunkturbelebung liegen. Scholz beklagte eine „unglaubliche Ausbreitung des Nullsummen-Denkens“. Dieses führe nur „zu Neid und Missgunst und nicht zum Miteinander“.

Seine Koalition werde gemeinsam mit dem Haushaltsentwurf einen „Wachstumsturbo“ mit auf den Weg bringen, sagte Scholz. Dazu gebe es „sehr kollegiale Gespräche in der Bundesregierung“, fügte der Kanzler hinzu – und erntete dafür Gelächter von der Opposition. „Wir werden den Haushaltsentwurf im Juli vorlegen“, versprach der Kanzler.

Ursprünglich hatten sich Scholz, Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) einen Kabinettsbeschluss am 3. Juli vorgenommen. Dieses Datum ist allerdings bereits jetzt nicht mehr zu halten, weil eine politische Einigung noch in einen beschlussreifen Entwurf übersetzt werden muss. Inzwischen wird der 17. Juli für den Beschluss im Kabinett angepeilt. Die Verhandler müssen Wege finden, eine Lücke im zweistelligen Milliardenbereich zu stopfen.

Kritische Töne aus der Opposition

Aus der Opposition hagelt es derweil Kritik. Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) attestierte der von Scholz geführten Regierung einen Verlust der Handlungsfähigkeit. „Sie haben für kein Ziel Ihrer Regierung mehr die Unterstützung auch nur eines Teils, geschweige denn der Mehrheit der Bevölkerung“, sagte Merz an den Kanzler gerichtet.

Merz betonte zudem, dass es bisher noch keine Regierung gegeben habe, die in einem solchen Ausmaß Maßnahmen verfolgt habe, die den vorherrschenden Interessen der Bevölkerung zuwiderlaufen. Der CDU-Chef machte die Koalition für das Erstarken der Parteien am rechten und linken Rand verantwortlich. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann warf Merz daraufhin vor, dass er „dieses Land nur schlecht redet“. Dies sei „fatal“, kritisierte Haßelmann.

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt warf der Koalition vor, keine Lehren aus ihrem schlechten Abschneiden bei der Europawahl gezogen zu haben. Dobrindt bilanzierte: „Migration tatenlos, Wachstumsschwäche tatenlos, Wohlstandsverlust tatenlos.“ Dobrindt kritisierte zudem, dass sich der Kanzler in seiner Rede nicht zu seiner Mitverantwortung für den Vertrauensverlust bekannt habe.

AfD-Chef Tino Chrupalla warf der Koalition vor, die Interessen der Bürger nicht zu vertreten. „Nur wenn die Bürger abgeholt werden und sich auch wahrgenommen fühlen, werden sie auch die Institutionen und die Akteure dahinter akzeptieren“. Dies geschehe aber nicht.

Auch die Abgeordnete Sahra Wagenknecht vom BSW warf der Koalition vor, die Sorgen der Menschen zu ignorieren. „Ihr Verständnis von Demokratie ist wirklich bemerkenswert: Die Wähler erteilen ihnen und der ‚Ampel‘ eine Abfuhr sondergleichen, und sie machen einfach weiter, als wäre nichts passiert“, sagte Wagenknecht.

EU-Gipfel: Scholz setzt auf Einigung bei Spitzenposten

In Bezug auf die Spitzenposten im EU-Parlament bestätigte der Kanzler bestätigte, dass er sich mit anderen europäischen Staats- und Regierungschefs der großen Parteienfamilien auf eine Nominierung von Ursula von der Leyen (CDU) für eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin geeinigt habe. Zudem habe man sich darauf verständigt, dass die liberale estnische Regierungschefin Kaja Kallas EU-Außenbeauftragte werden soll und der frühere portugiesische Regierungschef António Costa den Posten des EU-Ratspräsidenten erhalten soll.

Die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni hatte das Vorgehen zur Vergabe der EU-Spitzenposten zuvor scharf kritisiert. In Europa herrsche eine „Oligarchie“, sagte sie zu den Absprachen zwischen Scholz und fünf weiteren Staats- und Regierungschefs im Namen der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), der Sozialdemokraten und der Liberalen. Diese Parteien stellen nach den Europawahlen Anfang Juni erneut die Mehrheit.

Beim Gipfel ist für das Personalpaket eine qualifizierte Mehrheit von 15 EU-Ländern nötig, die 65 Prozent der europäischen Bevölkerung vertreten. Damit gilt es als nahezu ausgeschlossen, dass Meloni oder andere Kritiker den Beschluss noch stoppen können.

Schwieriger könnte es für von der Leyen werden, im Europaparlament die absolute Mehrheit der Abgeordnetenstimmen zu erhalten. Das Votum findet frühestens in der ersten Sitzung Mitte Juli statt. (dpa/afp/dl)



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