Wahl in Niedersachsen: Demobilisierung als Erfolgsrezept?

Nur noch 60,3 Prozent der Wahlberechtigten machten bei der Landtagswahl in Niedersachsen von ihrem Stimmrecht Gebrauch. Vor allem waren es die Zufriedenen.
Blick auf einen Zettel „zum Wahlraum“ vor einem Wahllokal zur Stimmabgabe für die Landtagswahl in Niedersachsen.
Blick auf einen Zettel „zum Wahlraum“ vor einem Wahllokal zur Stimmabgabe für die Landtagswahl in Niedersachsen.Foto: Friso Gentsch/dpa
Von 10. Oktober 2022

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Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis der Landtagswahl vom Sonntag (9.10.) in Niedersachsen haben nur 60,3 Prozent der Stimmberechtigten ihr Wahlrecht ausgeübt. Das waren knapp drei Prozentpunkte weniger als bei der Landtagswahl vor fünf Jahren. Gegenüber der Bundestagswahl im Vorjahr lag die Wahlbeteiligung sogar um 14,4 Prozentpunkte niedriger. Der Anteil der ungültigen Stimmen stieg auf 1,3 Prozent (plus 0,3 Prozentpunkte) bei den Erststimmen und 0,9 (plus 0,4 Prozentpunkte) Prozent bei den Zweitstimmen.

Nur 2008 und 2013 war Wahlbeteiligung in Niedersachsen noch niedriger

Es war nicht die niedrigste Wahlbeteiligung aller Zeiten bei Landtagswahlen in dem Flächenland. In den Jahren 2008 und 2013 war sie mit 57,1 beziehungsweise 59,4 Prozent noch geringer. Allerdings wirkt die geringe Mobilisierung vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen Krisensituation überraschend. Immerhin wird diese – Wahlanalysen zufolge – mittlerweile noch als deutlich gravierender wahrgenommen als zum Zeitpunkt der Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und NRW.

Im Jahr 2017 hatten noch 80 Prozent der Wahlberechtigten in Niedersachsen die allgemeine wirtschaftliche Lage im Land als gut eingeschätzt. Am gestrigen Wahltag waren es laut Infratest dimap nur noch 44 Prozent. Allerdings schätzten 60 Prozent der Grünen-Wähler ihre Lage als gut ein – gegenüber 17 Prozent der Wähler der AfD.

Der Anteil der Wähler, die der Überzeugung sind, in Deutschland gehe es im Großen und Ganzen gerecht zu, sank seit 2017 von 60 auf 43 Prozent. Die gegenteilige Einschätzung vertreten 51 gegenüber zuvor 35 Prozent.

Unzufriedenheit kommt auch im Westen an

Zudem kommt mittlerweile die Unzufriedenheit mit der Realität der Demokratie in Deutschland auch im Westen an. Zwar sind in Niedersachsen immer noch 59 Prozent damit zufrieden, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert. Das sind allerdings 13 Prozent weniger als noch 2017. Demgegenüber ist der Anteil der Unzufriedenen von 28 auf 39 Prozent angestiegen.

Besonders zufrieden mit der Demokratie in Deutschland sind die Wähler der Grünen (86 Prozent). Unter jenen der SPD sind es immerhin noch 80 Prozent. Demgegenüber sind es nur noch 66 Prozent der Unionswähler, 55 Prozent von jenen der FDP und 16 Prozent der AfD-Wähler. Von diesen äußern hingegen 83 Prozent, die Demokratie in Deutschland sei defizitär.

Ihre persönliche wirtschaftliche Situation schätzen sogar 91 Prozent der Grünen-Wähler als positiv ein. Auch Wähler von SPD, CDU und FDP beurteilen sie zu mehr als 80 Prozent als gut. Demgegenüber behaupten nur 77 Prozent der Links- und 66 Prozent der AfD-Wähler Gleiches von sich.

Unter den Wählern, die ihre persönliche wirtschaftliche Situation als schlecht einschätzen, landete die AfD mit 21 Prozent auf dem dritten Platz hinter SPD (29) und CDU (26). Grüne und FDP blieben in diesem Bevölkerungssegment einstellig. Überraschenderweise erhält die Linkspartei auch unter den sozial Schwachen nur drei Prozent. Die Wahlenthaltung oder die Stimmabgabe für die AfD scheint in diesem Segment als naheliegendere Option wahrgenommen worden zu sein.

Grüne als Einzige nicht um Energieversorgung und Preise besorgt

Auffällig war zudem, dass die Themen der Energieversorgung und der Preissteigerungen die Wähler aller Parteien am stärksten bewegten – mit Ausnahme jener der Grünen. Dort war das Thema „Klima“ mit 58 Prozent der Hauptbeweggrund für die Wahlentscheidung. Demgegenüber machen sich nur 14 Prozent der Grünen-Wähler Sorgen um die Energieversorgung. Mit zehn Prozent war sogar Bildungspolitik für Grünen-Wähler wichtiger als die Preisexplosion.

Hingegen erzielte die AfD mit 10,9 Prozent das viertbeste Ergebnis, das eine Rechtsaußenpartei seit 1945 im Land erzielen konnte. In den Jahren 1947, 1955 und 1959 kam die „Deutsche Partei“ (DP) auf 17,9 beziehungsweise jeweils 12,4 Prozent. Im Jahr 1951, wo die DP gemeinsam mit der CDU antrat, kam die später verbotene „Sozialistische Reichspartei“ (SRP) auf 11 Prozent der Zweitstimmen. Später konnte keine Partei rechts der Union mehr landesweit ein zweistelliges Ergebnis erzielen. Zwischen 1970 und 2017 schaffte es keine davon über die Fünf-Prozent-Hürde.

Die AfD konnte netto jeweils 40.000 Stimmen von CDU und FDP holen – möglicherweise eine Folge des Ukraine-Krieges. Während die bürgerlichen Parteien noch mehr Härte gegen Russland fordern und die Ukraine noch stärker unterstützen wollen, lehnen 79 Prozent der AfD-Wähler dies ab. Zudem finden es 72 Prozent von ihnen richtig, dass die Partei ein Ende der Russland-Sanktionen fordert.

Krise rettet AfD vor zweitem Schleswig-Holstein

Von der SPD wechselten 25.000 Wähler zur AfD, ebenso viele frühere Nichtwähler konnte die Partei mobilisieren. Ihre Hochburgen hatte die Rechtspartei vor allem im Osten des Landes (z. B. Gifhorn/Nord-Wolfsburg 16,8 Prozent, Wolfenbüttel-Süd/Salzgitter 15 Prozent).

Allerdings konnte die Partei erstmals auch in zuvor für die Rechte unzugänglichen Regionen Frieslands hohe Ergebnisse verbuchen: etwa 15,6 Prozent in Aurich oder 15,4 Prozent in Leer/Borkum. Die SPD verlor dort ihre vormals deutlichen absoluten Mehrheiten.

Deutlich unterdurchschnittlich schnitt die AfD hingegen in einigen Großstädten wie Hannover, Oldenburg oder Braunschweig sowie im Emsland ab. Dort kam die CDU in mehreren Stimmkreisen noch auf mehr als 40 Prozent. Die Grünen erzielten wie bereits zuvor in den Groß- und Universitätsstädten ihre höchsten Ergebnisse. In Göttingen kamen sie auf 33,5 Prozent. Zudem gewannen die Ökosozialisten in Göttingen, Hannover-Mitte und Lüneburg das Direktmandat.

Für die AfD bleibt die Steigerung um 4,7 Prozentpunkte gegenüber 2017 dennoch ein überraschender Erfolg. Die vor fünf Jahren gebildete Landtagsfraktion ist zerfallen. Der Landesverband agierte infolge erbittert geführter Flügelkämpfe am Rande der Funktionsfähigkeit. Nach der Wahlschlappe in Schleswig-Holstein (4,4 Prozent) war in sozialen Medien die Rede von einer „Verlegenheitsliste“, die man ins Rennen geschickt hätte. Auch in der Partei selbst rechneten viele nicht mit einem Wiedereinzug. Nun steht der Gifhorner Arzt Stefan Marzischewski-Drewes vor der Aufgabe, eine 18-köpfige Fraktion zusammenzuhalten. Die Landesliste umfasste nur 23 Kandidaten.

In Niedersachsen endet die letzte große Koalition

Welche bundesweiten Auswirkungen der Wahlausgang in Niedersachsen haben wird, bleibt ungewiss. Mit der eigenen rot-grünen Mehrheit im Landtag von Hannover verschwindet die letzte große Koalition aus SPD und Union auf Landesebene.

Vor allem in der FDP dürfte der Druck auf die Bundesführung jedoch steigern. Die Liberalen hatten bereits bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen Federn lassen müssen. Im Saarland legten sie auf niedrigem Niveau zu, ohne dass es für den Landtag reichte. Das Ausscheiden aus dem Landtag in Niedersachsen weckt in der Partei jedoch böse Erinnerungen an 2013, wo die FDP nach vier Jahren schwarz-gelber Koalition aus dem Bundestag flog.

Generalsekretär Bijan Djir-Sarai erklärte noch am Wahlabend selbstkritisch, dass die Präsenz in der Ampel-Koalition seiner Partei „große Probleme“ bereite. In der „Welt“ erklärt Parteichef Christian Lindner, die FDP sei „aus staatspolitischer Verantwortung“ Teil der Koalition im Bund, „nicht weil SPD und Grüne uns von den inhaltlichen Überzeugungen so nahe stünden“.

Dennoch glaubten mittlerweile viele Wähler, „wir seien jetzt auch eine linke Partei und keine mehr der Mitte“. Im nächsten Jahr stehen auf überregionaler Ebene Bürgerschaftswahlen in Bremen und Landtagswahlen in Hessen und Bayern an. Die FDP ist derzeit in allen drei Landtagen vertreten – mit Ergebnissen zwischen 5,1 und 7,5 Prozent. Ein weiteres Ausscheiden könnte den Verbleib der Partei in der Ampelkoalition infrage stellen. Djir-Sarai forderte bereits von den Koalitionspartnern, nun eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke zu beschließen.

CDU feuert ihren Bundesgeschäftsführer

In der CDU ist ebenfalls Katzenjammer angesagt. Der erhoffte „Merz-Effekt“ stellte sich nicht ein, mit 5,5 Prozentpunkten büßte die Partei sogar noch mehr ein als die SPD (-3,5 Prozentpunkte). Nachdem bereits Niedersachsen-Chef Bernd Althusmann seinen Rücktritt erklärt hatte, entlässt nun auch CDU-Chef Friedrich Merz Bundesgeschäftsführer Stefan Hennewig.

Das berichten am Montagvormittag mehrere Medien übereinstimmend unter Berufung auf Parteikreise. Die „Bild“ schreibt, dass Christoph Hoppe die Nachfolge Hennewigs antreten soll.

Hintergrund der Personalentscheidung sollen Fehler in den jüngsten Wahlkampagnen sein. Hennewig war seit Juli 2019 Bundesgeschäftsführer der CDU. Er war von der damaligen CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer als Nachfolger von Klaus Schüler ernannt worden. In seiner Funktion gehörte er auch dem Bundesvorstand der Partei an.

Merkel setzte Demobilisierung als bewusste Strategie ein

Jakob Hayner rechnet in einem Kommentar für die „Welt“ damit, dass der Anteil der Nichtwähler auch bundesweit weiter steigen wird. Einer aktuellen Umfrage zufolge trauen mittlerweile 63 Prozent der Wähler keiner Partei mehr zu, die Probleme des Landes lösen zu können.

Er verweist darauf, dass bereits Angela Merkel die „asymmetrische Demobilisierung“ als Machtstrategie eingesetzt habe. Dies bedeutete in der Praxis, eine Politik zu betreiben, die wenig von der Konkurrenz unterscheidbar war und medial keinen Gegenwind auslöste. Das Kalkül war, dass die Zufriedenen Merkel und ihre Partei stärken würden, um den Status quo zu erhalten. Demgegenüber würden linke Parteien Probleme haben, ihr Zielpublikum zu mobilisieren, weil viele zentrale Anliegen – etwa die „Energiewende“ – ohnehin von der CDU umgesetzt würden.

In Niedersachsen holten SPD und Grüne die Zufriedenen erfolgreich an die Urne. CDU und FDP wurden hingegen kaum als Alternative wahrgenommen in einer Wählerschaft, die um Wohlstand und Frieden besorgt ist. Die FDP war schon durch ihre Beteiligung an der Ampel geschwächt. Zudem scheint die Eskalationsrhetorik von Merz und anderen CDU-Granden mit Blick auf die Ukraine Wähler eher vertrieben als angelockt zu haben.

Politik machen, um Politik zu verhindern?

Die AfD hat zwar durch ihr Antreten den Anteil der Nichtwähler etwas in Grenzen halten können. Dennoch gibt es nach wie vor einen hohen Prozentsatz an Unzufriedenen, die mit den etablierten Parteien gebrochen haben, Linke und AfD hingegen als zu extrem und ideologisch empfinden – und deshalb die Stimmabgabe verweigern.

Hayner sieht in seinem „Welt“-Kommentar in der bewussten Wahlverweigerung und dem darin zum Ausdruck kommenden Trotzverhalten eine Chance, Bürger zurück ins selbstständige Handeln zu bringen. Er sieht in den Wahlverweigerern vor allem Menschen, die weniger statt mehr Politik in ihrem Leben haben wollen. Dennoch sei es gerade für diese erforderlich, sich Gehör zu verschaffen:

Am Anfang ist die Ablehnung: Man will nicht mehr ohnmächtiges Objekt von Politik sein. Am Ende steht vielleicht die Einsicht, was man eigentlich will. Bertolt Brecht, der Zeit seines Lebens nie Mitglied einer Partei war, schrieb einmal, er wolle leben mit wenig Politik. Und gerade das erfordere, immer wieder Politik zu machen – gezwungenermaßen.“

(Mit Material von dts)



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