Stromversorgung „sehr zuverlässig“? – Mr. Blackout: „Instabilstes Netz seit 50 Jahren“
12,8 Minuten – so lange haben die deutschen Stromkunden im vergangenen Jahr im Schnitt ohne Elektrizität auskommen müssen. Das ist nur wenig länger als im Jahr 2022, wo es 12,2 Minuten waren. Mit diesen Daten teilte die Bundesnetzagentur am Montag, 11. November, mit, dass die Stromversorgung hierzulande weiterhin „sehr zuverlässig“ sei.
Und das mitten in der Energiewende, wo die Bundesregierung nach dem Atom-Aus im vergangenen Jahr nun als Nächstes das Kohle-Aus anvisiert. Neben der Abschaltung zahlreicher grundlastfähiger Kraftwerke, gehen zeitgleich massenweise Kleinkraftwerke auf Basis von erneuerbaren Stromquellen ans Netz. Damit will der Bund in den kommenden rund zwei Jahrzehnten die Klimaneutralität erreichen.
„Die Stromversorgungsqualität in Deutschland liegt weiter auf sehr hohem Niveau“, sagte Netzagentur-Präsident Klaus Müller. „Das zeigt, dass es gelingt, bei der Energiewende voranzukommen, ohne dass die sichere Versorgung beeinträchtigt wird.“
Allerdings wurden gerade in diesem Jahr die Warnungen vor einem instabiler werdenden Stromnetz immer lauter. So erwähnten etwa rund 80 Prozent von fast 3.300 deutschen Unternehmen beim IHK-Energiewende-Barometer 2024, dass Engpässe bei Übertragungs- und Verteilnetzen ein zunehmendes Problem für sie darstelle.
Unterbrechungsindex SAIDI
Die Bundesnetzagentur ermittelt aus normalen, ungeplanten Unterbrechungen im Stromnetz den sogenannten SAIDIEnWG (System Average Interruption Duration Index). Dieser stellt die durchschnittliche Versorgungsunterbrechung je angeschlossenen Endverbraucher innerhalb eines Kalenderjahres dar.
Extreme Ereignisse wie Naturkatastrophen gelten als höhere Gewalt und fließen nicht in diese Berechnung mit ein. Das war etwa der Fall bei den Stromausfällen im Zusammenhang mit der Flut im Ahrtal vor gut drei Jahren.
Der SAIDIEnWG für 2023 setzt sich aus einer durchschnittlichen Nichtverfügbarkeit von Elektrizität von 10,4 Minuten im Mittelspannungsnetz und 2,4 Minuten im Niederspannungsnetz zusammen.
Die Kennzahlen zu Unterbrechungen der Stromversorgung im Jahr 2023 wiesen „auch unter Berücksichtigung der Maßnahmen der Energiewende keine negativen Tendenzen in Bezug auf die Langzeitunterbrechungen auf“, hieß es weiter von der Bundesnetzagentur. Der aktuelle Wert liege auf dem Niveau des zehnjährigen Mittels der Unterbrechungsdauer von 12,7 Minuten je Endverbraucher.
Ein Vergleich mit den Nachbarländern zeige zudem, dass das deutsche Stromnetz im europäischen Vergleich „nach wie vor zu den zuverlässigsten zählt“.
Mr. Blackout: Zwei Netze vernachlässigt
Stefan Spiegelsperger, Fachjournalist für Energiesicherheit und Katastrophenschutz, äußerte auf Anfrage der Epoch Times seine Bedenken gegenüber den neuen Zahlen.
„Erst mal ist das eine gute Nachricht und im internationalen Vergleich ein Spitzenwert“, sagte er mit Blick auf den SAIDIEnWG für das Nieder- und Mittelspannungsnetz. Das bedeute jedoch nicht, dass das komplette deutsche Stromnetz „total sicher“ ist. „Wenn ich nun erklären würde: Heute gibt es keinen Stau auf der Autobahn, weil gerade die Dorfstraße und Landstraße frei sind, würden Sie mich vermutlich verwundert anschauen.“
Spiegelsperger, der auf YouTube als Mr. Blackout bekannt ist, erklärte: „Der SAIDI berücksichtigt zwei Stromnetze: Das Niederspannungsnetz mit 230/400 Volt [V], quasi wie bei der Dorfstraße werden hier einzelne Häuser miteinander verbunden. Und das Mittelspannungsnetz mit beispielsweise 20.000 Volt, quasi die Landstraße im Stromnetz, die eben Ortschaften miteinander verbindet.“
Doch das deutsche Stromnetz besteht aus mehr. „Dazu gibt es aber auch noch die Hochspannungsebene mit beispielsweise 110.000 Volt, quasi die Bundesstraße, die größere Ortschaften verbindet und die Höchstspannungsleitungen mit etwa 380.000 Volt, also quasi die Autobahn“, so Spiegelsperger.
Faktor Redispatch
Aus der Sicht des Energiefachmanns ist die Netzsicherheit vielmehr in der Höchstspannungsebene zu messen. „Hier gibt es einen anderen Wert, die sogenannten Redispatchmaßnahmen, das Engpassmanagement. Oder wie ich die nenne: Notfalleingriffe, um unser Stromnetz stabil zu halten und einen Systemausfall, also einen Blackout, zu verhindern.“
Tatsächlich steigt die Häufigkeit der Redispatchmaßnahmen seit Jahren massiv an. „Waren das in den 2000er-Jahren noch drei bis sechs Eingriffe pro Jahr, waren es 2023 bereits 15.192 Eingriffe“, so Spiegelsperger. Dies hat die Stromkunden allein im vergangenen Jahr rund 3,1 Milliarden Euro gekostet – Tendenz seit Jahren überwiegend steigend.
„Das zeigt sehr eindringlich, dass unser Netz immer instabiler wird und wir damit das instabilste Netz haben, das dieses Land die letzten 50 Jahre hatte“, so Spiegelsperger. „Auch die Netzbetreiber kommen zu diesem Schluss – in ihrer Langfristanalyse 2030. Dabei könnte schon ein Blitz ausreichend sein, um das System vor allem im Norden des Landes zusammenbrechen zu lassen.“
Steigende Gefahr für Systemausfall
Laut der Bundesnetzagentur hatten 852 Netzbetreiber im Jahr 2023 insgesamt 158.360 Versorgungsunterbrechungen in der Nieder- und Mittelspannung übermittelt. Die Anzahl der Störungsmeldungen nahm gegenüber dem Vorjahr um etwa 1.115 Meldungen zu.
„Davon sind allein circa 100.000 geplante Ausfälle, also für Wartung, Netzausbau und so weiter“, sagte Spiegelsperger. „Die anderen allerdings sind ungeplant, weil zum Beispiel ein Trafo kaputtgeht, ein Bagger eine Leitung aufgräbt, zu viel Strom durch Wind und Solar im Netz sind, es Unwetter gibt. Auch immer häufiger, weil zu viel Strom verbraucht wird, etwa durch Wärmepumpen und E-Lader.“
Zudem weist der YouTuber darauf hin, dass Deutschland eine sichere Stromversorgung habe, solange es keinen Systemausfall gebe. Allerdings steige diese Gefahr massiv an. Spiegelsperger geht davon aus, dass die Energiebehörde den Bürgern mit ihrer jüngsten Meldung „eine falsche Sicherheit suggeriert“.
Einen kontrollierten Teilsystemausfall kann es unter Umständen geben, wenn im Netz zu wenig Strom vorhanden ist. Ein solcher Engpass fand zuletzt am 6. November bei einer sogenannten Dunkelflaute statt. Die von der Bundesregierung favorisierten Energiequellen Windkraft und Photovoltaik lieferten über mehrere Stunden fast keinen Strom.
„Dann kann man Teile der Industrie abschalten, um Strom einzusparen. Also als Erstes erwischt es die Industrie“, so Spiegelsperger. „Weiter gibt es in der Industrie viele Anlagen, welche ausfallen, wenn etwa der Strom nur für eine Sekunde weg ist oder die Netzfrequenz schwankt. All das ist im SAIDI nicht enthalten, der zählt erst ab drei Minuten Unterbrechung und auch nicht bei Naturkatastrophen.“
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