Streit um Corona-Maßnahmen: Wann ist COVID-19 offiziell keine Pandemie mehr?

Es komme „auf ein paar Wochen“ nicht mehr an, meint Minister Lauterbach. Die FDP hingegen macht Druck. Sie will auch die letzten Corona-Maßnahmen beenden.
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Hat mit seinem Interview eine neue Debatte über noch bestehende Corona-Maßnahmen ausgelöst: Charité-Virologe Christian Drosten.Foto: über dts Nachrichtenagentur
Von 28. Dezember 2022

Am 7. April 2023 soll das Infektionsschutzgesetz in seiner jetzigen Form auslaufen. Dennoch entbrennt innerhalb der Ampel-Koalition ein Streit über ein Ende der letzten noch in Kraft befindlichen Corona-Maßnahmen. Auslöser ist ein Interview des Charité-Virologen Christian Drosten am Dienstag (27.12.) im „Tagesspiegel“.

DIVI und Bundesärztekammer pflichten Drosten bei

Drosten hat darin unter anderem die Einschätzung zum Ausdruck gebracht, dass die Pandemie vorbei sei. Deutschland erlebe in diesem Winter vielmehr die erste endemische Welle mit dem Coronavirus. Mit dem Übergang zur Endemie nehme COVID-19 den Charakter anderer regelmäßig auftretender Infektionskrankheiten wie Grippe oder Masern an.

Dass Drosten diese Einschätzung äußert, gilt als gewichtig. Immerhin hatte er seit Beginn der Pandemie die Bundesregierung bezüglich des Umgangs mit dem Virus beraten. Dabei galt er als Verfechter eines auf Vorsicht angelegten Kurses.

Die gleiche Auffassung wie der Charité-Virologe vertreten die Deutsche Gesellschaft der Notfallmediziner (DIVI) und die Bundesärztekammer. Auf globaler Ebene ist die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dafür zuständig, die Einstufung von Corona als Pandemie zu beenden.

Tedros sieht weltweites Ende des Gesundheitsnotstandes Ende 2023

Von deren Präsidenten Tedros Adhanom Ghebreyesus kommen uneinheitliche Signale. Einerseits äußerte er sich zuversichtlich, den weltweiten Gesundheitsnotstand „bis Ende 2023“ für beendet erklären zu können. Andererseits warnte er vor „Lücken bei der Überwachung, den Tests, der Sequenzierung und der Impfung“.

Trotz einer gewissen Immunisierung von 90 Prozent der Weltbevölkerung sei die Pandemie „noch nicht vorbei“. „Neue besorgniserregende Varianten“ seien nicht auszuschließen. Auch Drosten wollte einen sogenannten Mutationssprung beim Coronavirus nicht ausschließen. Allerdings fügte er gegenüber dem „Tagesspiegel“ hinzu:

Aber auch das erwarte ich im Moment nicht mehr.“

Kubicki sieht keine Grundlage mehr für verpflichtende Corona-Maßnahmen

Die medizinische Fachwelt ist sich mittlerweile weitgehend darüber einig, dass ein offizielles Ende der Pandemie nur noch eine Frage der Zeit ist. Unterdessen spitzt sich jedoch die Debatte um den politischen Umgang mit Corona zu. Diese hat in Deutschland mittlerweile auch die Regierungskoalition erreicht.

Unter Berufung auf die Aussagen Drostens forderten vor allem Politiker der FDP ein sofortiges Ende aller noch verbliebenen bundesweiten Corona-Maßnahmen. Bundesjustizminister Marco Buschmann wies darauf hin, dass dies auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes jederzeit per Verordnung geschehen könne. In einem Brief an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) schrieb Buschmann am Montag (26.12.):

 

Von dieser Möglichkeit sollten wir jetzt Gebrauch machen.“

Auch FDP-Vize Wolfgang Kubicki sieht durch Drostens Aussagen „jeglicher Grundrechtseinschränkung zur Eindämmung des Coronavirus die Grundlage entzogen“. Verpflichtende Maßnahmen seien deshalb nicht mehr erforderlich.

„Nach drei Jahren Pandemie kommt es auf ein paar Wochen nicht mehr an“

Lauterbach hingegen will die bestehenden bundesweiten Maßnahmen zumindest noch bis zum Auslaufen der derzeitigen Fassung des Infektionsschutzgesetzes am 7. April beibehalten. Er äußerte gegenüber der „Deutschen Presse-Agentur“:

 

Ein sofortiges Beenden aller Maßnahmen wäre leichtsinnig und wird auch von Christian Drosten nicht gefordert.“

Der Virologe liege zwar richtig mit seiner Einschätzung, dass sich das Land mittlerweile in einem endemischen Zustand der Coronawellen befinde. Diese beträfen auch nur Teile der Bevölkerung. Dennoch solle man „hier nicht aufs Glatteis gehen“. Besonders gefährdete Menschen zu schützen sei nach wie vor erforderlich, so der Minister:

 

Die Kliniken sind voll, das Personal überlastet, die Übersterblichkeit ist hoch und der Winter ist noch nicht zu Ende.“

Da nach dem Winter mit einer deutlich entspannteren Situation zu rechnen sei, komme es „doch jetzt nach drei Jahren Pandemie noch auf ein paar Wochen nicht an“.

Corona-Maßnahmen stehen für gesellschaftliche Spaltung

Es sind nicht mehr viele Corona-Maßnahmen, die auf Bundesebene noch in Kraft sind – und sie sind so niedrigschwellig, dass sie viele Bürger im Alltag gar nicht betreffen. Nur wer Fernzüge oder Fernbusse benutzt oder sich in medizinischen oder Pflegeeinrichtungen aufhält, ist noch zum Tragen einer FFP2-Maske verpflichtet. Kinder bis einschließlich 13 Jahre oder Personal dürfen stattdessen auch OP-Masken verwenden.

Die Bundesländer können weitere Maßnahmen beschließen – beispielsweise zur Quarantänepflicht oder zur Maskenpflicht im ÖPNV und in Innenräumen. Sachsen-Anhalt und Bayern haben die Maskenpflicht im Nah- und Regionalverkehr bereits abgeschafft, in Schleswig-Holstein läuft sie Ende des Jahres aus.

Allerdings sitzt die Erinnerung an mittlerweile fast drei Jahre der Einschränkungen und Maßnahmen in weiten Teilen der Bevölkerung noch tief. Besuchsregelungen für private Weihnachtsfeste, 2G-Regelungen oder geschlossene Betriebe sind nicht vergessen. Deshalb beinhalten mittlerweile selbst symbolische Regelungen Zündstoff. Deshalb mahnt auch der Virologe Klaus Stöhr die Bundesregierung zu Vorsicht in der Krisenkommunikation:

 

Man verunsichert die Menschen weiter, man spaltet die Gesellschaft.“

Union fordert Ministerpräsidentenkonferenz Anfang Januar

In der „Welt“ warf Andrew Ullmann, der gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Minister Lauterbach vor, dieser würde „die Fakten ignorieren“. Es sei die Zeit gekommen, um auf Eigenverantwortung im Umgang mit COVID-19 zu setzen:

 

Wir brauchen im Fernverkehr und in den Krankenhäusern keine staatlich verordneten Maßnahmen mehr wie die Maskenpflicht.“

Auch die Union fordert ein Ende der Maßnahmen. Deren gesundheitspolitischer Sprecher Tino Sorge sagte dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“:

 

Europa geht zur Normalität über, nur die Ampel-Regierung hat nicht den Mut, die meisten Corona-Maßnahmen endlich zu beenden.“

Es sei Zeit für Bundeskanzler Olaf Scholz, für Anfang Januar dazu ein Treffen mit den Ministerpräsidenten der Länder anzusetzen.

Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, sieht ebenfalls Handlungsbedarf. Er sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, der Bund solle „dringend“ die Notwendigkeit seiner noch bestehenden Maßnahmen überprüfen. Das verpflichtende Maskentragen in der Bahn sei „immer schwerer vermittelbar“.

Uneinheitliche Positionen in den Gesundheitsverbänden

In der Ärzteschaft gehen die Meinungen zu der Frage auseinander, ob es jetzt schon Zeit für ein Ende aller noch bestehenden Pflichtmaßnahmen sei.

Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, äußert:

 

Wenn jetzt auch die Wissenschaft nahezu einhellig sagt, die Pandemie ist vorbei, kann man die Maßnahmen nicht mehr als Pflichtmaßnahmen aufrechterhalten.“

Ein „Weiter so“ bis Anfang April sei in der Bevölkerung nicht vermittelbar. In den Kliniken sollte die Maskenpflicht aufrechterhalten bleiben, die Testpflicht könne jedoch entfallen.
Johannes Nießen, Vorsitzender des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes, warnt hingegen vor Eile. In der „Welt“ erklärt er:

 

Einem vorauseilenden Einstellen aller Schutzmaßnahmen schon zum jetzigen Zeitpunkt stehe ich kritisch gegenüber.“

Er verwies auf erhöhte Fallzahlen und eine Belastung der Krankenhäuser durch Personalausfall. Maßnahmen wie die Maskenpflicht noch bis April aufrechtzuerhalten, könne auch mit Blick auf andere derzeit im Umlauf befindliche Infektionskrankheiten für Entlastung sorgen.

Wirtschaftsweise: Maskenpflicht bis April wirkt hohem Krankenstand entgegen

Der Vorstandsvorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, sprach sich gegenüber dem „Bayerischen Rundfunk“ für das Tragen von Masken in Arztpraxen und engen und schlecht belüfteten Innenräumen aus. Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, appellierte an „Umsicht“. Er stellte im „Deutschlandfunk“ aber auch infrage, „inwieweit wir noch rechtliche Maßnahmen im Sinne des Infektionsschutzgesetzes brauchen“.

Die Chefin der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, tritt demgegenüber für ein Beibehalten noch bestehender Beschränkungen wie der Maskenpflicht im öffentlichen Nah- und Fernverkehr ein. Diese schränkten die wirtschaftliche Aktivität nicht ein, reduzierten aber die Corona-Infektionen und andere Atemwegserkrankungen. Gegenüber den Zeitungen der „Funke Mediengruppe“ verwies sie auf derzeit weit verbreitete Personalausfälle:

 

Der Krankenstand ist aktuell schon überdurchschnittlich hoch. Eine Aufhebung dieser Beschränkungen könnte den Krankenstand weiter erhöhen, was sich negativ auf die Wirtschaft auswirken würde.“

Bundesländer werden überwiegend an restlichen Corona-Maßnahmen festhalten

In den meisten Bundesländern zeichnet sich ebenfalls ein Beibehalten der noch bestehenden Corona-Maßnahmen bis April ab. Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher betonte, man werde an den verbliebenen Einschränkungen bis zum Frühjahr festhalten.

Auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil will erst nach dem Ende der Wintermonate und einer entsprechenden Einschätzung des Bundes die verbliebenen Corona-Eingriffe beenden. Er erklärt, aufgrund der noch bestehenden Schutzmaßnahmen habe man die Lage „erkennbar unter Kontrolle“.

Die Infektionswelle in China könnte „das Mutationsrisiko wieder erhöht haben“, äußert er in der „Welt“. Allerdings gehe auch er nicht davon aus, dass es nach dem 7. April noch Handlungsbedarf geben werde:

 

Wenn wir weiterhin so gut durch diesen Winter kommen wie bisher, können wir das Thema Pandemie danach hoffentlich abhaken.“

Mikrobiologen: Erwartungen von Zero-COVID-Protagonisten illusorisch

Ab Februar wollen die 194 Mitgliedstaaten der WHO über ein neues internationales Abkommen zur besseren Vorbereitung auf und Bewältigung von Pandemien verhandeln. Dabei sollen auch die Fehler im Umgang mit der Corona-Pandemie aufgearbeitet und Lehren daraus gezogen werden.

Der Mikrobiologe Philippe Sansonetti vom Pasteur-Institut in Paris dämpft im Vorfeld dieses geplanten Treffens die Hoffnungen sogenannter Zero-COVID-Befürworter. Diese setzen darauf, durch eine vollständige Unterbrechung des sozialen Lebens über einen gewissen Zeitraum das Virus vollständig ausrotten zu können. Bei der SARS-Pandemie 2003 oder den Pocken sei dies immerhin gelungen.

Diese Erfahrungen, so Sansonetti, seien auf COVID-19 jedoch nicht übertragbar:

 

Um ein Virus auszurotten, muss die Krankheit klinisch sichtbar sein, es darf kein tierisches Reservoir geben. Zugleich aber muss es einen sehr wirksamen Impfstoff geben, der vor Ansteckung schützt. Corona erfüllt keine dieser Voraussetzungen“.

Ein Teil der Menschen, die sich mit dem Coronavirus anstecken, hat keine Krankheitssymptome. Und im Gegensatz zu den Pocken kann das Virus zwischen Mensch und Tier hin- und her springen.

Die Impfstoffe sind zwar sehr wirksam gegen einen schweren Krankheitsverlauf, schützen aber weniger vor Ansteckung und Auffrischungsimpfungen bleiben notwendig. „Dieses Virus wird nicht verschwinden“, prognostiziert deshalb auch WHO-Chef Tedros.

(Mit Material von dpa, AFP und dts)



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