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plus-iconGefahr der Isolationsregime

Soziologe Richard Sennett: „Dass die Deutschen keine Netzwerke bilden, ist für mich eine Art Betriebsausfall“

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Menschen gehen am 4. Januar 2021 durch eine Fußgängerzone in Köln, Westdeutschland, inmitten der fortlaufenden neuartigen Coronavirus / COVID-19-Pandemie.

Foto: INA FASSBENDER / AFP über Getty Images

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Lesedauer: 4 Min.

Vor bleibenden Schäden der Corona-Pandemie für die Gesellschaft warnt der renommierte britisch-amerikanische Soziologe Richard Sennett in einem Interview mit der Zeitung „Welt am Sonntag“ via Skype.
Besonders beunruhigend empfindet er die wissenschaftliche Auffassung als einen Fehler, „dass Isolation ein gangbarer Weg für Menschen sei, mit einer Krise wie dieser umzugehen“. Dabei verweist der 78-Jährige auch auf die soziologische Naivität vieler Epidemiologen, die sagen würden: „Versteckt Euch, fürchtet Euch, redet mit niemandem!“
In Großbritannien beispielsweise würden diese Ratschläge dazu führen, dass sich die Menschen sozial und emotional machtlos fühlen. An anderen Orten der Welt geht man andere Wege.
In Delhi, Indien, beispielsweise, habe das Wohn- und Siedlungsprogramm der Vereinten Nationen, für das er als Berater arbeite, Netzwerke aufgebaut, so der Soziologe und Stadtplaner, in dem jedes Mitglied täglich 20 bis 30 Leute anrufe, „einfach um zu hören, wie es ihnen geht.“ Das gebe den Leuten ein Gefühl, etwas tun zu können, mit ihren Nachbarn in Kontakt zu bleiben, anstatt sich zu verkriechen.

Ein Hoffnungsschimmer in der Hoffnungslosigkeit

Die Wirkung der Pandemie auf das gesellschaftlich-kulturelle Leben ist unübersehbar. Sennet fällt diesbezüglich das „katastrophisierende Denken“ auf, eine Rhetorik, die der Großteil der Zivilgesellschaft pflegt. Es sei von einem Journalismus herbeigeführt, „der Hoffnungslosigkeit liebt“. Der Katastrophismus suggeriere gerade, dass die Lage hoffnungslos sei.
Doch er, Sennett, sehe einen Hoffnungsschimmer. Er sehe, wie die Leute auf ihr Leben mit der Videokonferenzsoftware Zoom reagierten, sie würden sich wehren „gegen diese Art von Entmaterialisierung“.
„Das deutet darauf hin, dass es etwas in uns geben muss, was tatsächlich in physischer Präsenz mit Menschen sein will.“
Man könne darüber nachdenken, wie man Räume nutzen und gestalten könne, „die uns von Angesicht zu Angesicht zusammenbringen“, erklärte der bekannte Soziologe.
Zudem gebe es Berufe, die sich nicht ins Digitale verlagern lassen würden. So werde ein Klassenunterschied sichtbar, zwischen Büroangestellten, die im Homeoffice von zu Hause aus arbeiten könnten, und der Arbeiterklasse, die das nicht könne.

Zusammenhalt und Spaltung

In Großbritannien bringe die Pandemie Teile der Gesellschaft näher zusammen. Als es darum ging, die Kinder in die Schulen zu bekommen, hätten Menschen jeden Alters, ob mit oder ohne Nachwuchs, dies als ein Thema betrachtet, das alle angehe. „Ich finde es merkwürdig, dass in Deutschland genau der gegenteilige Effekt eintritt“, wundert sich der Soziologe.
Darauf angesprochen, dass sich in Deutschland viele Eltern alleingelassen und überfordert fühlten, nicht wüssten, wie sie Homeoffice und Homeschooling gleichzeitig stemmen sollen, fragte Sennet zurück, ob es denn keine Selbsthilfegruppen gebe, „bei denen jeden Tag ein Elternteil reihum online das Homeschooling für zehn oder zwölf Kinder übernimmt, sodass die anderen Eltern in dieser Zeit entlastet sind?“ Falls nicht, zeige das eine Schwäche der Zivilgesellschaft.
In den heruntergekommenen Armenvierteln von Delhi mit ethnischer Gewalt hätten sich Eltern zu solchen Gruppen zusammengeschlossen. Die Frage sei also:
„Warum hat die Pandemie in Deutschland eher zu einer sozialen Spaltung als zu einem Zusammenhalt geführt?“
Selbst die Leute in Delhi hätten sich soziale Strukturen aufgebaut,  weil sie sie gebraucht hätten. Dann wussten sie plötzlich viel mehr über ihre Nachbarn und auch wer gerade Hilfe brauche. „Dass die Deutschen keine solchen Netzwerke bilden, um sich gegenseitig zu unterstützen, ist für mich eine Art Betriebsausfall – ein soziologischer Zusammenbruch“.

Gefahr der Isolationsregime

Man müsse aufpassen, dass man keine Isolationsregime einführe, die die Pandemie überdauern. In dieser Pandemie könnten Wege geschaffen werden, um die Menschen zu isolieren und den öffentlichen Raum zu schließen.
Es sei leichter, eine Vorschrift im Notfall aufzustellen, als diese danach wieder abzuschaffen. Das Wichtigste sei, dafür zu sorgen, „dass keine bleibenden Schäden entstehen“. (sm)

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