Prof. Dr. Grimm: „Neue Verfassung hätte Ostdeutschen vielleicht ein anderes Gefühl vermittelt“

„Eine gemeinsame, neu erarbeitete Verfassung hätte vielleicht auch in Ostdeutschland das Gefühl vermittelt, dass man an der Erarbeitung beteiligt ist.“ Das sagt der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Grimm, im Gespräch mit Epoch Times.
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Das Reichstagsgebäude in Berlin ist Sitz des Bundestages.Foto: SBphotos/iStock
Von 20. Januar 2023

Am Rande einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin zum Thema „Die Deutschen und ihr Grundgesetz – Einschätzungen im Wandel der Zeit“ sprach Epoch Times mit einem der Redner – Prof. Dr. Dieter Grimm, Bundesverfassungsrichter a.D. und Autor mehrerer Bücher.

Dabei ging er auf das Verhältnis der Deutschen zum Grundgesetz und der verfassungsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Werk durch Historiker ein.

Was macht das Grundgesetz so besonders und hebt es ab von anderen Verfassungen?

Es hat die Weichen gestellt zur Wiedergeburt Deutschlands nach der großen Katastrophe des verlorenen Weltkriegs und der Zeit des Nationalsozialismus. Es hat uns auf eine gute Bahn gesetzt. Das ist eigentlich der Hauptverdienst.

Warum wird es im Ausland geschätzt?

Weil es ein Beispiel dafür ist, wie aus einer ziemlich tiefen Katastrophe ein Land als gefestigte Demokratie und auch als wirtschaftlich starkes Land wieder auferstanden ist. Das wird von vielen Ausländern auch mit der Verfassung zusammengebracht. Die Verfassung allein kann das natürlich nicht bewerkstelligen, aber eine gute Verfassung kann einen Beitrag dazu leisten. Eine schlechte Verfassung kann hinderlich sein. Insofern müssen wir sagen, wir haben Glück gehabt mit dem Grundgesetz.

Und im Bereich der Verfassungsrechtler, wie sieht es da aus? Gibt es da nur Lob?

Also jeder hat irgendeine Kritik am Grundgesetz. Ich habe auch Kritik am Grundgesetz. Ich finde, dass sehr viele Veränderungen – es hat ja nach seiner Entstehung sehr viele Änderungen gegeben –, das Grundgesetz nicht besser gemacht haben. Aber das hat jetzt keinen Einfluss darauf, dass die Grundhaltung ist: „Es ist eine gut gelungene und sehr, sehr hilfreiche Verfassung.“

Heute wurde auch über den sogenannten Verfassungspatriotismus gesprochen. Wodurch zeigt er sich Ihrer Meinung nach? Und für wie wichtig halten Sie ihn für ein stabiles Deutschland?

Also mit Verfassungspatriotismus, wenn ich das richtig deute, ist eine gewisse Verbundenheit der Bevölkerung mit der eigenen Verfassung gemeint. Das zeigt, dass jedenfalls die Erwartungen und die Hoffnungen, die man an die Politik und die Gestalt eines Landes hat, im Grundgesetz einen gewissen Ausdruck gefunden haben. Ja, diese Verbundenheit sehe ich nach wie vor.

Sicher hat dabei eine Rolle gespielt, dass derjenige, der den Ausdruck erfunden hat, ein konservativer Journalist und Publizist, teilweise auch Wissenschaftler war. Der, der den Begriff dann popularisiert hat, ist ein linker Philosoph gewesen, nämlich Jürgen Habermas (93). Habermas hat gesagt: „Wir haben einen Verfassungspatriotismus!“ Mit diesem Begriff war, glaube ich, die ganze Gesellschaft einverstanden.

Jetzt konnten Rechte und Linke ihn gut gebrauchen. Für Habermas war es sozusagen ein ungefährlicher Patriotismus, einer, der nicht wieder in Nationalismus umschlägt, sondern der sich jetzt an der Verfassung festmacht. Das ist für ihn, glaube ich, das Wichtige gewesen. Für Adolf Sternberger († 27. Juli 1989), den konservativen Publizisten, war es so, dass er in der Zeit der Teilung Deutschlands sagen wollte: „Wir sind zwar keine geeinte Nation mehr, aber hier ist trotzdem etwas, worauf man stolz sein kann, nämlich eine gute Verfassung.“

Für wie wichtig halten sie diese Verbundenheit?

Ich finde, wenn man schon eine Verfassung hat und wenn man will, dass die Verfassung wirkt, dann gehört auch dazu, dass sie im Volk Resonanz findet.

Warum ist damals der Weg gewählt worden, dass ein Beitritt der DDR in den Geltungsbereich des Grundgesetzes der BRD stattgefunden hat? Es hätte ja auch Alternativen gegeben.

Ja, die Alternative wäre gewesen, dass man eine verfassungsgebende Nationalversammlung einberufen hätte, so wie zum Beispiel 1848 oder 1919, die dann eine Verfassung für ganz Deutschland ausgearbeitet hätte. Das war der Weg, den Artikel 146 des Grundgesetzes vorzeichnete. Der andere Weg ist eingeschlagen worden, weil er schnell war.

Aber es gab noch andere Gründe. Ein weiterer Grund war, dass natürlich die DDR-Bevölkerung zum großen Teil fand, dass das Grundgesetz offenbar ganz gut war. Die kannten es ja nicht wirklich, aber sie hatten den Eindruck, dass die Bundesrepublik ganz gut darunter gelebt hat. „Es kann nicht schlecht sein, wenn wir das auch übernehmen.“ Das dachte nicht jeder, aber doch ein erheblicher Teil.

Was die Schnelligkeit betrifft: Eine verfassungsgebende Nationalversammlung braucht natürlich ein Jahr, bis sie mit einem Entwurf kommt. Dann muss der Entwurf in der Volksabstimmung angenommen werden. Das Zeitfenster für die Wiedervereinigung hätte dann schon zu sein können.

Sehen Sie rückblickend auch einen Nachteil in der Wahl des Weges?

Ich denke, dass eine gemeinsame, neu erarbeitete Verfassung vielleicht auch in Ostdeutschland das Gefühl vermittelt hätte: „Wir sind beteiligt daran!“ In der Wiedervereinigungsphase spielte das keine so große Rolle wie jetzt, wo doch häufig im Osten das Gefühl aufkommt: „Da ist uns etwas übergestülpt worden.“

Man muss sagen, dass das nicht so war. Es war ein freier Entschluss der ersten frei gewählten Volkskammer in der DDR, das so zu machen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass bei dem anderen Weg vielleicht das eine oder andere Argument heute nicht zur Verfügung stünde.

Das Bundesverfassungsgericht legt das Grundgesetz aus – es ist letztendlich der Entscheider. Es gilt immer die Interpretation des Gerichtes. Manche Richter kommen aus der Politik. Besteht also die Gefahr, dass Karlsruhe sozusagen in seinem Sinne Politik macht? Und gibt es kritische Punkte bei diesem Konstrukt?

Also zunächst mal sind Verfassungsrichter, die auch einmal ein politisches Amt oder Mandat gehabt haben, immer die Ausnahme. Ich finde gut, dass welche dabei sind, weil ein Verfassungsgericht ja dauernd über die Entscheidungen der Politik richtet.

Es ist auch wichtig, dass man Richter hat, die die Bedingungen kennen, unter denen politisch entschieden wird. Also insofern fand ich es immer einen Gewinn. Vorausgesetzt, dass die ehemaligen Politiker den Rollenwechsel hinkriegen.

Sie dürfen natürlich sich jetzt nicht mehr als Parteipolitiker verstehen. Das ist aber in aller Regel gelungen. Dafür sorgt natürlich auch, dass Sie eine verschwindende Minderheit sind. Wenn Sie die Mehrheit wären, wäre das vielleicht ein bisschen was anderes. Aber da kann ich eigentlich nur sagen, dass wir insgesamt gute Erfahrungen damit gemacht haben. Ich sehe in diesem Punkt keinen Änderungsbedarf.

Worin liegt der verfassungsgeschichtlich gesehene Grund für die stiefmütterliche Behandlung des Grundgesetzes durch die Historiker?

Die Frage ist schwer zu beantworten. Es ist nicht so, dass die Historiker sagen: „Wir behandeln das Recht nicht“. Das ist kein Entschluss der Historiker, sondern ich glaube, das Problem ist, dass sie nicht die Sensibilität entwickelt haben zu sehen, wie relevant das Werk ist. Sie sehen nicht die große Bedeutung, die das Grundgesetz für die Entwicklung Deutschlands hatte. Warum das so ist, hängt vielleicht mit der Ausbildung der Historiker zusammen. Für mich ist das schwer zu sagen.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Grimm 

  • Geboren 1937 in Kassel
  • Studium der Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft in Frankfurt/Main, Freiburg/Breisgau, Berlin, Paris und Harvard
  • von 1987 bis 1999 Richter des Bundesverfassungsgerichts
  • seit 1999 war er ordentlicher Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin (2005 emeritiert)
  • von Oktober 2001 bis März 2007 Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin
  • Gastprofessor an der Yale Law School, an der New York University Law School, an der University of Toronto
  • Ehrendoktorwürden der Universitäten Toronto und Göttingen

 



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