Oberster Richter von Rheinland-Pfalz warnt vor „Sonderrechtsregime“ der Bundesregierung

Die deutsche Politik reagiert auf die steigende Zahl der positiven Tests mit strengeren Regeln – die Verwaltungsgerichte kippen sie wieder. Haben die Parlamente überhaupt noch eine Kontrollfunktion? Ein deutscher Richter und ein Schweizer Journalist beantworten diese Frage mit einem eindeutigen „Nein“ und gehen mit der Bundesregierung hart ins Gericht.
Von 16. Oktober 2020

Während die Bundesregierung versucht die Corona-Maßnahmen mit Sperrstunden, Beherbergungsverboten und Kontakteinschränkungen zu verschärfen, werden die kritischen Stimmen dagegen auf regionaler Ebene immer lauter.

Eine Stimme kommt aus Rheinland-Pfalz vom Mainzer Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Lars Brocker. Er kritisierte Mitte Oktober die Corona-Politik der Bundesregierung: Der Bundestag sei nicht einbezogen, die Warnhinweise der Verwaltungsgerichte nicht erhört.

Warnhinweise der Verwaltungsgerichte weiterhin ungehört

Brocker fordert den Bundestag auf, die Corona-Regelungen juristisch zu überdenken.

Seit Monaten formulieren Verwaltungsgerichte bundesweit in ihren Beschlüssen Bedenken gegenüber dem bislang weitgehend exekutiven Regelungsregime der Corona-Verordnungen“, sagte Brocker.

„Diese deutlichen Warnhinweise werden noch nicht hinreichend wahrgenommen“, so der oberste Richter von Rheinland-Pfalz.

Die Bundesregierung hat ein „Sonderrechtsregime“ errichtet, das von den Parlamenten „abgekoppelt“ wurde, sagte Brocker. Es „gerät zunehmend in Konflikt mit den rechtsstaatlichen Vorgaben der Verfassung“ und übergeht die Parlamente in Bund und Ländern. 

Die Konflikte würden sich nicht daraus ergeben, dass die Maßnahmen selbst zu weit gehen, „sondern weil weiterhin allein die Exekutive handelt“.

„Alle drei Staatsgewalten müssen ihren Beitrag leisten“

„Die Corona-Krise ist weder allein die Stunde der Exekutive noch der sie kontrollierenden Judikative: Alle drei Staatsgewalten müssen ihren Beitrag leisten und deshalb dringend als zentrales Staatsorgan auch der Deutsche Bundestag“, so Brocker.

Die Verwaltungsgerichte versuchen diese verfassungsrechtliche Lücke zu schließen, indem sie beschlossene Maßnahmen kippen.

Der Bundestag sollte die Warnhinweise der Verwaltungsgerichte allerdings als Handlungsaufforderung begreifen, gesetzgeberisch tätig zu werden und die Verordnungen als dringend notwendiges Instrument zur Bekämpfung der Pandemie verfassungsrechtlich abzusichern, forderte Brocker.

„Dies ist aus grundrechtlicher Sicht gerade jetzt angesichts bevorstehender Verschärfungen von Schutzmaßnahmen dringend geboten“, so der Jurist.

Journalist: „Eine schleichende Form der Amtsanmaßung“

Die „Neue Zürcher Zeitung“ findet zur Situation noch deutlichere Worte und schreibt über eine „ Regelungswut der Politik“, welche sogar ein „Ausdruck von Hilflosigkeit“ sein soll. Die Zeitung geht mit den einzelnen Maßnahmen hart ins Gericht und stempelt das Beherbergungsverbot als „Schnapsidee“ ab.

Eric Gujer kommentiert die deutsche Lage und findet zwei häufig erwähnte Gründe für die Kritik an den Maßnahmen: die Durchführbarkeit und den medizinischen Nutzen. Gujer bemängelt gleichzeitig, dass bei der Kritik eine „verfassungsrechtliche Bewertung“ meist gar nicht beachtet wird.

Das innerdeutsche Reiseverbot ist seiner Meinung nach ein „erheblicher Eingriff in die Grundrechte“, der zumindest ein Gesetz und die Abstimmung der Parlamente erfordere. Diese fehlen aber komplett und haben sich seit der Lockdown-Zeit nicht geändert.

„Staatliche Beinahe-Allmacht war in der Anfangsphase der Pandemie noch vertretbar im Sinne eines Notstandes“, meint Gujer. Mittlerweile sind aber über acht Monate vergangen, wobei die Regierung genug Zeit gehabt hätte, „sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten“.

Der Zürcher Journalist geht mit seiner Abwertung weiter: „Die Exekutive nutzt die Krise, um die Gewichte zwischen den Verfassungsorganen zu verschieben. Es ist eine schleichende Form der Amtsanmaßung“.

„Die Parlamente und die Bürger dürfen das nicht hinnehmen“, so Gujer.



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