Musterschüler auf der Eselsbank? Deutschland droht Klimaschutzziele deutlich zu verfehlen

Der „Expertenrat für Klimafragen“ geht davon aus, dass Deutschland seine selbst gesetzten Klimaschutzziele deutlich verfehlen wird. Dies könnte auch zu erheblichen Mehrkosten aufgrund von EU-Vorgaben führen.
Attestieren dem Klimakurs der Bundesregierung große Lücken: Hans-Martin Henning (r), Vorsitzender und Brigitte Knopf, stellvertretende Vorsitzende vom Expertenrat für Klimafragen.
Attestieren dem Klimakurs der Bundesregierung große Lücken: Hans-Martin Henning (r.), Vorsitzender, und Brigitte Knopf, stellvertretende Vorsitzende vom Expertenrat für Klimafragen.Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
Von 23. August 2023

Der sogenannte Expertenrat für Klimafragen hat Deutschland ein schlechtes Zeugnis in Sachen CO₂-Einsparung ausgestellt. Nicht nur die zuständigen Ministerien für Bauen und Verkehr würden den Vorgaben des Klimaschutzgesetzes (KSG) nicht genügen. Das Erreichen des Ziels, Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 65 Prozent gegenüber 1990 zu verringern, erscheine als immer unrealistischer.

Deutschland droht ein Verfehlen der Emissionsziele um mindestens 200 Millionen Tonnen

Wie die „Welt“ berichtet, hat der unabhängige Expertenrat die Fortschritte der Bundesregierung bei der Erfüllung des KSG unter die Lupe genommen. Dass dies regelmäßig geschieht, ist in dem Gesetz selbst verankert. Nun heißt es jedoch im ersten Prüfbericht, der Bund scheitere nicht nur an den selbst gesetzten Vorgaben. Zudem rechne man sich die eigenen Erfolgsaussichten schön.

Die Bundesregierung gehe davon aus, dass Deutschland in der Lage sein werde, bis 2030 seine Lücke zwischen Reduktionsziel und tatsächlicher Reduzierung zu schließen. Diese werde sich zwischen 2021 und 2030 auf etwa 200 Millionen Tonnen an CO₂-Äquivalenten belaufen.

Der Expertenrat bezweifelt, dass Deutschland dies schaffen werde. Auch wenn der Bund sein Klimaschutzprogramm komplett umsetze, werde dies die Treibhausgasemissionen weniger stark als erwartet absenken. Das Umweltbundesamt selbst geht „table.media“ zufolge von einer Gesamtlücke von 331 Millionen Tonnen bei allen potenziell klimawirksamen Treibhausgasen aus. Dies geht aus dem Projektionsbericht der Behörde für 2023 hervor.

„Klimaschutzprogramm 2023“ entspricht laut Expertenrat nicht gesetzlichen Anforderungen

Im Juni hatte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ein 130 Maßnahmen umfassendes „Klimaschutzprogramm“ für Deutschland vorgelegt. Eine davon war das umstrittene Heizungsgesetz. Allerdings hieß es bereits bei der Vorstellung, man werde „die Klimaschutzlücke, die die Vorgängerregierung uns hinterlassen hat“, nur zu 80 Prozent schließen können.

Allerdings rücke, das betonte Habeck bei der Vorstellung ebenfalls, das Klimaziel für 2030 „erstmals in Reichweite“. Aus Sicht des Expertenrates kommt diese Aussage jedoch einem brisanten Eingeständnis gleich. Nämlich jenem, dass „das Klimaschutzprogramm 2023 nicht den Anforderungen an ein Klimaschutzprogramm gemäß Klimaschutzgesetz entspricht“.

Zudem sei „für etliche Maßnahmen des Klimaschutzprogramms die Umsetzung aus unterschiedlichen Gründen noch mit erheblichen Unsicherheiten behaftet“. Damit spielt der Expertenrat nicht zuletzt auf die erheblichen Widerstände an, die das geplante Heizungsgesetz in der Öffentlichkeit hervorruft.

Lob für Deutschlandticket und „Klimaschutzverträge“

Der Expertenrat zweifelt zudem an der Plausibilität der Aussage Habecks, Deutschland werde seine Klimaziele zu 80 Prozent erreichen. Dies liege nicht zuletzt daran, dass die kommunale Wärmeplanung der Städte und Gemeinden erst bis 2028 vorliegen müsse.

Zudem habe man „bislang keine gesamtwirtschaftliche Modellierung vorgenommen“. Eine solche wäre erforderlich, um den einzelwirtschaftlichen Investitionsbedarf und die daraus resultierenden gesamtwirtschaftlichen Effekte einschätzen zu können.

Lob vonseiten des Expertenrats kommt zwar für neue Instrumente wie Klimaschutzverträge in der Industrie oder „wichtige Innovationen“ wie das Deutschlandticket bei der Bahn. Gleichzeitig fehlten im Klimaschutzprogramm etwa konkrete Ausführungen zum möglichen Abbau „klimaschädlicher Subventionen“.

Auch konkrete Pläne für ein Tempolimit vermisse der Expertenrat. Er sieht sich teilweise nicht in der Lage, seine Evaluierung aufgrund der ihm vorgelegten Daten flächendeckend zu konkretisieren:

Eine belastbare Maßnahme-Wirkung-Analyse und ein Aufwand-Nutzen-Vergleich der im Klimaschutzprogramm 2023 enthaltenen Maßnahmen sind damit nicht möglich.“

EU gibt detaillierte Branchenziele zum Klimaschutz vor

Die unzureichenden Ergebnisse des selbst ernannten Klimaschutz-Vorreiters Deutschland im Verkehrs- und Gebäudesektor haben möglicherweise auch Konsequenzen vonseiten der EU. Experten sehen bis 2030 zusätzliche Kosten zwischen 15 und 30 Milliarden Euro auf das Land zukommen, wie „table.media“ mitteilt. Die Summe ergibt sich unter anderem aus den Bestimmungen der EU-Lastenteilungsverordnung (ESR).

Das EU-Programm „Fit for 55“ hat nämlich nichts mit dem körperlichen Wohlbefinden älterer Erwerbstätiger zu tun. Vielmehr geht es darum, dass die EU mithilfe noch engmaschigerer Vorgaben ihren CO₂-Ausstoß schon bis 2030 um 55 Prozent senken will. Dieses Ziel haben Unterhändler von EU-Parlament, Kommission und Rat im Jahr 2022 beschlossen.

Brüssel hat die Vorgabe zudem auf einzelne Sektoren heruntergebrochen. So soll die Summe der Emissionen in einzelnen Sektoren bis Ende des Jahrzehnts um 40 Prozent gegenüber 2005 sinken. Zuvor war noch von 30 Prozent die Rede gewesen. Betroffen sind unter anderem die Bereiche Gebäude, Verkehr, kleine Industrieanlagen, Landwirtschaft und Abfall.

Deutschland wird Emissionszertifikate zukaufen müssen

Gleichzeitig ist es Teil eines im März 2023 beschlossenen Gesetzespakets, die Vorgaben für die einzelnen Länder an deren Wirtschaftskraft zu koppeln. Deutschland als größte Volkswirtschaft ist demnach zu einer Reduktion von 50 statt ursprünglich 38 Prozent verpflichtet. Für ärmere Länder wie Bulgarien gelten niedrigere Schwellen – dort beträgt die Reduktionsverpflichtung beispielsweise zehn Prozent.

Kommt ein Land seinen Verpflichtungen aufgrund der Verordnung nicht nach, drohen Ausgleichszahlungspflichten. Die ESR gilt dabei für Sektoren, die noch nicht im europäischen Emissionshandel (ETS) abgedeckt sind. Für diese etablierte man damit ein System, das auf sogenannten CO₂-Äquivalenten aufbaut.

Wie „Euractiv“ berichtet, wird Deutschland voraussichtlich 150 Millionen Tonnen mehr davon ausstoßen, als dem Land zustehe. Bis 2030 erwartet hingegen der Expertenrat, dass es mehr als 200 Millionen Tonnen mehr sein werden. Dafür muss das Land Emissionszertifikate aus anderen Ländern zukaufen. Dass Deutschland nun einige sektorale Klimaziele zugunsten eines systemischen Ansatzes aufgegeben hat, werde die Situation verschärfen, so die Experten.

„Niemand weiß“ um Konsequenzen eines kollektiven Scheiterns

Zwar könnten Länder wie Bulgarien oder Rumänien Deutschland ihre überschüssigen Zertifikate günstig anbieten. Allerdings könnte es angesichts der immer enger gesteckten EU-Vorgaben geschehen, dass immer weniger Mitgliedstaaten ihre Verpflichtungen übererfüllen.

Im äußersten Fall könnten keine Zertifikate mehr zur Verfügung stehen, die angeboten werden könnten. Was dann passieren soll, weiß nicht einmal Brigitte Knopf, die stellvertretende Vorsitzende des Expertenrats für Klimafragen. Gegenüber „Euractiv“ erklärte sie:

Genau das ist die Frage. Niemand weiß das mit Sicherheit.“

Ende Oktober will die Europäische Umweltagentur eine Bilanz darüber veröffentlichen, wie viele EU-Staaten ihre Ziele für die Lastenteilung erreichen könnten. Die deutsche Bundesregierung selbst will einen Zukauf von Emissionsrechten nach Möglichkeit vermeiden.



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