Gastroflüsterer: „Es ist schon viel mehr als nur eine Gastrokrise“
Es gilt als eines der besten Restaurants in ganz Hamburg: die Tapas- und Weinbar La Paz im Stadtteil Eimsbüttel in gut frequentierter Lage. Die Touristikwebsite Tripadvisor führt es auf Platz zwei von über 2.500 Restaurants in der Hansestadt. Das klingt nach einem erfolgreichen Lokal mit florierenden Einnahmen.
Doch weit gefehlt: In einem Instagram-Video teilte der Betreiber Kemal Üres im November mit: „Ich fahr’ Minus ein“. Wie kann das sein, wo doch so viele Besucher Spitzenbewertungen über sein Restaurant abgegeben haben? Epoch Times sprach mit Üres, um herauszufinden, warum der Betreiber eines gefragten Restaurants in einer der größten Städte Deutschlands einen Hilferuf über die sozialen Medien ausgesendet hat.
Guten Tag, Herr Üres, stellen Sie sich doch bitte zunächst einmal vor.
Sehr gerne. Guten Tag, ich bin Kemal Üres, 46 Jahre alt und lebe in Hamburg. Mit 19 Jahren bin ich vom Bodensee nach Hamburg gekommen. Mit 22 habe ich mich mit meinem ersten Restaurant selbstständig gemacht, was sich immer weiterentwickelt hat.
Dann kamen weitere Projekte hinzu: Gemeinschaftsverpflegung, Kita-Verpflegung, Business, Catering, gesunde Konzepte. Jedes Projekt war begleitet von Hochs und Tiefs, die die Branche mit sich bringt. Die habe ich alle mitgenommen, habe nichts ausgelassen.
Und dann kam Corona. Ich hatte davor insgesamt 150 Mitarbeiter. Viele meiner Geschäfte musste ich einstellen.
Neu hinzugekommen ist allerdings der „Gastroflüsterer“. Alles hat mit einem Video begonnen, das viral ging. Rund neun Millionen Menschen haben das gesehen. Ich sah, dass in Social Media keiner diese Nische bespielt und habe beschlossen, das zu ändern und in diese Lücke zu gehen. Inzwischen gebe ich meine Erfahrungen in Seminaren anderen Selbstständigen aus der Branche weiter.
In einem Videobeitrag sprechen Sie von schwieriger gewordenen Bedingungen für die Gastrobranche. Was hat sich geändert?
Die Gastronomie war noch nie ein einfaches Pflaster. Früher wurde sehr viel auf dem Rücken der Mitarbeiter und auf uns selbst ausgetragen, um Geld zu verdienen. Mit Corona ist natürlich alles in sich zusammengefallen. Viele Fachkräfte sind abgewandert. Angebot und Nachfrage führten dazu, dass die, die geblieben sind, nun mehr Geld verlangen.
Das ganze Konstrukt, das ohnehin schon nie gesund war, ist kollabiert. 30.000 Betriebe hat die Branche während Corona verloren. Und jetzt mit der Mehrwertsteuererhöhung von 7 auf 19 Prozent werden es noch mal etliche Betriebe nicht mehr schaffen. Die Kollegen verzweifeln.
Und die gestiegenen Energiepreise?
Energie und Rohstoffe fallen in der Gastronomie nicht sonderlich ins Gewicht. Es sind vielmehr die Personalkosten. Die Mitarbeiter wollen entsprechend bezahlt werden, und das ist auch fair für den Job, den sie abliefern. Aber die Löhne haben sich mal eben um 30 bis 40 Prozent erhöht. In Summe ist das einfach nicht mehr zu schaffen. Das heißt, viele Kollegen bringen Geld mit.
Kann man von einer Gastrokrise sprechen?
Es ist keine Krise, es ist deutlich mehr als das. Viele wollen einfach ihre Lokale verkaufen. Aber es ist kein Käufermarkt, es ist ein Verkäufermarkt. Das heißt, es gibt praktisch keine Nachfrage, keine Abnehmer. Die Gastronomen versuchen dennoch, ihren Laden offenzuhalten. Denn ein geschlossener Laden bringt keine Ablöse. Das betrifft jetzt die komplette Branche.
Es ist wie bei einer Finanzkrise: Es wird einfach mal alles komplett platt gemacht. Wir haben rund 80 Prozent Individualgastronomie in Deutschland und 20 bis 30 Prozent Systemgastronomie [Anm. d. Red: Die Systemgastronomie zeichnet sich im Unterschied zur klassischen Gastronomie durch Standardisierung aus wie bei Fast-Food-Ketten].
In Amerika ist das genau andersherum. Und bei uns geht es in ebendiese Richtung, dass die Systemgastronomie dominieren wird. Das ist traurig für Deutschland, weil die Individualgastronomie für Vielfalt steht. Dahinter stehen Existenzen: Menschen, Familien, Mitarbeiter.
Sie haben den Bundeskanzler kritisiert, dass er sein Versprechen zur Mehrwertsteuer gebrochen hat. Hat die Politik zu wenig für die Gastrobranche getan?
Ich würde nicht sagen, dass die Politik nur für die Gastronomie zu wenig getan hat. Sie macht insgesamt zu wenig für die Kleinen und den Mittelstand. Die Großen wie die Lufthansa haben Lobbyisten, diese Unternehmen werden gesehen und gerettet. Aber hinter der Gastrobranche stehen viele einzelne Menschen. Der Mittelstand und Kleinunternehmer tragen das Land. Das finde ich nicht fair, da die Kleinen am Ende die Verlierer sind.
Die Politiker wissen ganz genau, dass die Mittelschicht sehr viel trägt. Dass wir beim Thema Mehrwertsteuer gescheitert sind und es uns nicht gelungen ist, Verständnis für die Tragweite der Folgen zu generieren, finde ich schon bitter.
Lohnt es sich heutzutage noch, ein Restaurant zu eröffnen?
Die nächsten zwei, drei Jahre werden sehr hart. Ich würde mit dem Start ein bisschen warten. Aber es gibt Menschen mit den Fähigkeiten, dem nötigen Kleingeld und einem gut ausgearbeiteten Businessplan. Wenn alle Faktoren passen, kann er sofort anfangen. Letztlich entscheidet der Selbstständige selbst über seinen Erfolg. Aber grundsätzlich ist es aktuell schwierig. In ein paar Jahren kommen auch wieder gute Zeiten.
Bei Tripadvisor hat das La Paz derzeit die zweitbeste Bewertung aller Hamburger Restaurants. Was unterscheidet Sie Ihrer Ansicht nach von anderen Lokalen? Was ist das Geheimnis Ihres Erfolgs?
Ich bin der Gastroflüsterer … Nein, Spaß. Wir machen auch Fehler. Aktuell haben wir einiges am Management verändert, weil ein paar Dinge nicht so gut gelaufen sind. Diese Touristikplattformen bieten dem Gast viel Transparenz. Ich denke, das Team im Laden macht einen sehr guten Job. Zufriedene Gäste motivieren wir, eine Bewertung abzugeben. Das trägt offen gesagt auch dazu bei. Aber es liegt wohl hauptsächlich am guten Essen und am guten Service.
Wie schätzen Sie die Lage Ihres Restaurants und der Gastrobranche in fünf Jahren ein?
Ich denke, dass sich die Mentalität „viel für wenig Geld“ ändern muss. Gastronomen haben Kosten für Lagerlogistik, Einkauf, Personal und Reinigung – das sieht der Gast nicht und will das auch nicht bezahlen. Aber das ist nun mal der Preis, den ein Restaurantbesuch kostet. Ich bin überzeugt, dass diese Wertschätzung hierfür kommen wird. Der Gast wird so wie in London oder in anderen Städten auch für gutes Essen im Restaurant entsprechend bezahlen müssen. Da kostet ein Kaffee und ein Sandwich eben zehn oder zwölf Euro.
Klar will und kann sich das nicht jeder leisten. Aber anders geht es nicht. Wir haben bisher vieles über Extrastunden von Mitarbeitern selbst getragen. Die Mitarbeiter werden das auf Dauer nicht mitmachen – zu Recht.
Durch Corona haben viele die Gastrobranche verlassen. Hier muss sich definitiv etwas zurechtrücken. Auf diese Zeit freue ich mich. Es heißt: Wenn etwas kaputtgeht, kann etwas Neues entstehen, weil man daraus lernt oder sich Dinge schneller entwickeln können. Corona und Inflation waren wie Katalysatoren. Normalerweise würden wir vielleicht 30 Jahre für diese Entwicklung brauchen. Das ist jetzt komprimiert auf rund fünf Jahre. Darauf freue ich mich. Auch wenn leider viele Gastrokollegen auf der Strecke bleiben werden.
Wie viele Betriebe gibt es derzeit und wie ist die Entwicklung?
Derzeit gibt es in Deutschland knapp 180.000 Gastronomiebetriebe. 30.000 haben wir während Corona verloren. Ich schätze, es kommen noch mal viele hinzu. Die DEHOGA [Deutscher Hotel- und Gaststättenverband] schätzt 12.000.
Ich gehe davon aus, dass wir künftig nur noch zwischen 120.000 und 130.000 Betriebe haben werden – ein Drittel weniger. Das ist in England nicht anders. Da machen aktuell im Schnitt zehn Betriebe am Tag zu. Die rutschen zum ersten Mal unter die Grenze von 100.000 Betrieben. Das tut weh, das ist traurig.
Diese Entwicklung ist …
… ein trauriger Verlust für die Gesellschaft, für den Gast. Letztlich wird alles teurer. Wenn weniger Betriebe da sind, dann werden die Gastronomen zu Recht sagen: Wir sind ausgebucht, die Preise müssen bezahlt werden. Der Gast wird sich Restaurantbesuche nicht mehr so oft leisten können. Es ist auch traurig für die Städte, für die Straßen. Die Vielfalt stirbt. Auch die kleinen Läden sterben aus. Viele verlieren ihre Existenz, alle Seiten verlieren.
Aber der Staat wollte das so. Die Argumentation für die Rückkehr zu 19 Prozent war der hohe Steuereinnahmeverlust bei Beibehaltung der 7 Prozent. Ich denke, sie haben nicht zu Ende gerechnet, was ihnen verloren geht, wenn so viele Betriebe in Folge dichtmachen. Ein geschlossener Betrieb zahlt gar keine Mehrwertsteuer mehr, auch keine Sozialabgaben, Darlehen werden nicht mehr bedient, Mieten nicht mehr bezahlt und so weiter.
Ich beobachte, dass die Mittelschicht so nicht mehr existieren wird. Es wird eine Zweiklassengesellschaft: Die, die es haben und die, die ums Überleben kämpfen werden. Wie in vielen anderen südländischen Regionen. Wie in Spanien oder der Türkei und in vielen anderen südländischen Regionen wird das auch in Deutschland sichtbar werden – nicht langfristig, sondern schon in den nächsten Jahren.
Was ist der Zweck Ihrer Gastro Business School?
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass viele Gastronomen fast ausschließlich über das Tagesgeschäft lernen – Trial and Error. Das kostet Geld, Lebenszeit, Nerven, Gesundheit, Familie. Ich weiß, was es mich gekostet hat. Und wir wollen das ändern. Meine Vision ist es, die größte Weiterbildungsplattform für Gastronomen im deutschsprachigen Raum aufzubauen. Als Gastroflüsterer kann ich meine Reichweite dafür nutzen, Gastronomen wirklich zu erreichen und eine Community zu bilden.
Ich möchte eine Bewegung aufbauen. Und dazu muss man Teil der Bewegung sein. Ich bin Gastronom – jeden Tag. Ich spreche die Sprache. Ich weiß, wie es ist, abends im Bett zu liegen, Angst zu haben, alle Kosten decken zu können. Ob die Mitarbeiter noch kommen, ob ich alles richtig mache? Selbstzweifel. Ich kenne das. Und ich weiß den Weg da raus. Ich bin keiner, der aus der Theorie kommt, ich bin den Weg gegangen. Ich sage mal, ein Teil Theorie und fünf Teile „Hintern bewegen“. Am Ende zählt die Praxis und die Umsetzung. Das gebe ich jetzt meinen Gastrokollegen weiter.
In unserer ersten Workshopreihe geht es um das aktuell größte Problem in der Gastronomie: Das Cashflow-Problem! Der Hauptgrund hierfür ist, dass veraltet kalkuliert wird. 95 Prozent der Gastronomen verwenden noch immer die Aufschlagkalkulation. Das führt dazu, dass sie trotz Umsatz nichts verdienen. Diese Art der Kalkulation hatte vor 20 Jahren ihre Berechtigung, als der Wareneinsatz der größte Kostenblock war. Aber heute sind es vor allem die Personalkosten. Daher muss anders kalkuliert werden. Nur 5 Prozent der Gastronomen wenden aktuell die Deckungsbeitragskalkulation an. Deshalb ist unsere erste Mission, die anderen 95 Prozent darin zu schulen.
Dafür reisen wir mit der Gastro Business School jetzt von Stadt zu Stadt. Wir haben momentan plattformübergreifend 900.000 Follower. Rund die Hälfte davon sind Gastronomen. Unser erster Workshop war ein toller Erfolg. Wir hatten glückliche Teilnehmer, die zum ersten Mal gespürt haben, dass sie nicht alleine mit den Problemen sind. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Wir bauen Communitystrukturen auf, wo sich die Teilnehmer im Anschluss an den Workshop im Prozess der Umstellung austauschen können. Das ist eine tolle Mission. Darauf habe ich Jahrzehnte gewartet.
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