50 Jahre nach dem „Radikalenerlass“: Kretschmann entschuldigt sich bei „Opfern“
Am 28. Januar 1972 erblickte der sogenannte Radikalenerlass das Licht der Welt. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat anlässlich des 50. Jahrestages sein Bedauern über „zu Unrecht Betroffene“ geäußert. Ihm zufolge habe der Erlass „eine ganze Generation […] unter Verdacht gestellt“ und „vielen Menschen die Berufs- und Lebensperspektive genommen“.
In einem Brief erklärte Kretschmann, der Radikalenerlass habe „viel mehr Schaden angerichtet als Nutzen gestiftet“. Ein „großer Teil der damals jungen Generation“ sei damals ohne besonderen Anlass „in den Generalverdacht, nicht verfassungstreu zu sein“, geraten.
Kein neues Recht geschaffen – nur geltendes präzisiert
Mit der Erklärung der Regierungschefs der Länder und des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt wurde kein neues Recht geschaffen. Vielmehr unterstrichen die „Grundsätze über die Mitgliedschaft von Beamten in extremen Organisationen“ bestehendes Recht: Wer in ein Beamtenverhältnis berufen wird, muss jederzeitige Gewähr für den Eintritt für die freiheitlich-demokratische Grundordnung bieten.
Das Dokument machte jedoch erstmals deutlich, dass bereits eine bloße Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung zwingend diesbezügliche Zweifel begründe. Diese Zweifel, so heißt es weiter, „rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung“ eines Bewerbers. Begründe eine bereits im öffentlichen Dienst tätige Person die Zweifel, sei eine mögliche Entlassung zu prüfen. Dennoch war auch im Rahmen des Radikalenerlasses eine Einzelfallprüfung zwingend vorgesehen.
Radikalenerlass betraf nicht den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
Der Radikalenerlass betraf den gesamten öffentlichen Dienst. Dies bedeutete nicht nur, dass vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens an Polizeibeamte, Lehrer, Verwaltungsmitarbeiter oder Offiziere potenziell betroffen waren.
Auch wer etwa Lokomotivführer, Briefträger, Bademeister, Friedhofsgärtner, Bibliothekar oder Pfleger in einem kommunalen Krankenhaus werden wollte, wurde potenziell vom Verfassungsschutz gecheckt. Mitarbeiter öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten stehen hingegen in keinem Beamtenverhältnis. Deshalb galt der Radikalenerlass für sie zu keiner Zeit.
Ziel des Radikalenerlasses war es, weniger als drei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine neuerliche Unterwanderung des Staates durch totalitäre Bestrebungen zu verhindern. In der Endphase der 1960er-Jahre befanden sich linksextreme Bestrebungen vor allem an den Universitäten im Aufwind. Aber auch der rechtsextremistischen NPD gelang der Einzug in zahlreiche Landtage.
Hauptaugenmerk galt RAF-Umfeld und DDR-gesteuerten Kommunisten
Anders als Kretschmann in seinem Schreiben andeutet, war eine bloße Identifikation mit der sogenannten 68er-Generation kein Anlass für die Anwendung des Radikalenerlasses. Das Interesse der öffentlichen Dienstgeber galt hauptsächlich der „Deutschen Kommunistischen Partei“ (DKP) und deren Nebenorganisationen wie SDAJ oder „MSB Spartakus“.
Diese wurden nicht nur finanziell von Stellen der DDR unterstützt. Die kommunistische Führung in Ostberlin und die KPdSU trafen auch alle politisch und organisatorisch relevanten Entscheidungen. Wie spätere Auswertungen ergaben, führte auch die Staatssicherheit der DDR etwa 200 ständige Diensteinheiten in Westdeutschland. Bis zu 30.000 Bürger der BRD waren demnach als Informelle Mitarbeiter (IM) der Stasi tätig.
Dazu kam die Bedrohung durch den Terrorismus der „Roten Armee Fraktion“ (RAF), der über ein mehrere Tausend Personen umfassendes Unterstützerumfeld verfügte. Auf der extremen Linken agierten zudem nicht von der Sowjetunion oder der DDR dirigierte Gruppen. Zu diesen gehörten maoistische Vereinigungen wie der „Kommunistische Bund“. Zahlreiche spätere Mitglieder und Funktionsträger der Grünen gehörten diesen Vereinigungen an – in seiner Studienzeit auch Winfried Kretschmann.
Nur 0,3 Prozent der Anfragen führten zur Einzelfallprüfung
In der Praxis betrafen 80 Prozent der Anfragen an den Verfassungsschutz den Schuldienst, zehn Prozent die Hochschulen und fünf Prozent die Justiz. Insgesamt soll es im Zuge der Sicherheitsüberprüfungen bis zu 3,5 Millionen Anfragen an den Verfassungsschutz gegeben haben. In 11.000 Fällen soll es zu Einzelfallprüfungen gekommen sein.
Allerdings unterblieb lediglich in maximal 2.000 Fällen eine Einstellung in den öffentlichen Dienst. In 256 Fällen soll es Entlassungen gegeben haben. Für viele Betroffene, so Kretschmann, habe es jedoch zu Unrecht Sanktionen gegeben. Diese hätten „zu Unrecht durch Gesinnungsanhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierungen oder auch Arbeitslosigkeit Leid erlebt“.
Kretschmann bot den Betroffenen dem Staatsministerium zufolge nun ein Gespräch an. Eine Rehabilitierung und Entschädigung sei jedoch nicht vorgesehen, weil eine Einzelfallprüfung kaum umzusetzen sei und weil Akten teils gar nicht mehr vorlägen, hieß es.
Historikerin: „Radikalenerlass unnötig – es gibt auch heute eine Mäßigungspflicht“
Die 1970er-Jahre brachten der Bundesrepublik einen massiven politischen und gesellschaftlich-kulturellen Linksruck. Daher versuchte die SPD, einen drohenden Prestigeverlust bei der akademischen Jugend abzuwenden, der ihr durch den Radikalenerlass drohte. Dass das Bundesverfassungsgericht ihn 1975 sogar als erforderlich erachtete, machte es ihr schwer, zurückzurudern.
Ab Ende der 1970er rückten der Bund und die sozialdemokratisch regierten Länder allerdings kontinuierlich wieder davon ab. Die unionsgeführten Länder zogen nach. Bayern schaffte als letztes Bundesland im Jahr 1991 den Radikalenerlass ab.
Historikerin Alexandra Jaeger äußert gegenüber dem NDR, eine Bestimmung wie der Radikalenerlass sei nicht erforderlich, um die Verfassungstreue von Beamten zu gewährleisten:
Es gibt eine Mäßigungspflicht: Wegen konkreter Äußerungen, beispielsweise einem Aufruf zum Staatsumsturz, kann man auch heute Personen belangen. Man kann das Disziplinarverfahren auch ohne Erlasse und Regelanfragen einleiten. Die Frage ist, wann man eingreift – darüber müsste man sich verständigen.“
Wegen des Vorwurfs des Verstoßes gegen das Mäßigungsgebot ist es in einigen Fällen auch zu Disziplinarmaßnahmen gegen frühere Parlamentarier der AfD gekommen. So konnte beispielsweise der frühere Bundestagsabgeordnete Jens Maier nicht wieder auf seinen Posten in der Justiz zurückkehren.
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