Über 35.000 Todesfälle – Vielzahl illegaler Bauten mitverantwortlich
Genau eine Woche nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien ist die Zahl der gemeldeten Todesopfer weiter angestiegen. Tausende Menschen werden immer noch vermisst. Am Montag der Vorwoche (6. Februar) erschütterten Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 die Region, das Epizentrum des Bebens lag im Südosten der Türkei.
Die Chancen, noch Überlebende aus den Trümmern zu bergen, sind faktisch auf null gesunken. In der Türkei sind mittlerweile mindestens 30.000 Tote zu beklagen, in Syrien schätzt die Weltgesundheitsorganisation die Zahl der Todesopfer auf 5.900. Der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths rechnete am Sonntag sogar mit bis zu 50.000 Toten.
Geretteter Junge verlangte nach Fruchtgummis
Dennoch kam es auch am Wochenende noch zu Rettungswundern. So überlebten in Hatay ein kleiner Junge und eine 62-jährige Frau, wie die englischsprachige Ausgabe der „Hürriyet“ berichtete. Sie waren vor ihrer Rettung am Sonntagnachmittag fast 163 Stunden lang unter den Trümmern eingestürzter Gebäude gefangen.
In der Provinz Kahramanmaras wurde ein 45-jähriger Mann gerettet, der 162 Stunden verschüttet gewesen war. Während der Rettungsarbeiten erzählte er den Rettungskräften, dass er auf den Ofen neben sich geschlagen habe, um auf sich aufmerksam zu machen. 158 Stunden musste ein zehnjähriger Junge in der Stadt Adimayan auf Rettung warten. Sein erster Wunsch, Fruchtgummis zu bekommen, habe die Herzen der Retter berührt.
Nach Angaben der türkischen Katastrophenschutzbehörde waren mehr als 233.320 Menschen von türkischen Organisationen und 9.369 internationale Retter an den Such- und Rettungsarbeiten beteiligt. Insgesamt kamen Hilfsteams aus 75 Ländern in die Türkei. Über das sogenannte EU-Katastrophenschutzverfahren waren 38 Rettungsteams mit 1.651 Helfern und 106 Suchhunden verfügbar.
Emir von Katar besucht als erster Staatschef die Türkei nach dem Erdbeben
Als erstes ausländisches Staatsoberhaupt hat am Sonntag der Emir von Katar, Tamim bin Hamad Al Thani, die Türkei besucht. Er sagte dem politisch eng verbündeten Land umfangreiche Hilfe beim Wiederaufbau der betroffenen Gebiete zu. Auch aus den Vereinigten Arabischen Emiraten kam eine Ankündigung, Ankara mehrere zehn Millionen US-Dollar zur Verfügung zu stellen.
Die deutsche Bundesregierung kündigte an, die Visa-Vergabe über ein unbürokratisches Verfahren zu vereinfachen. So sollen Betroffene leichter zeitweilig bei Angehörigen in Deutschland unterkommen können. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg, Gökay Sofuoğlu, rief die Behörden im RND dazu auf, bei der Visa-Vergabe tatsächlich schnelle Entscheidungen zu treffen:
Es wird für alle ein Aufwand sein, aber in dieser schwierigen Lage sollten die Behörden sowohl in Deutschland, aber auch in der Türkei alles daran setzen, dass diese Menschen reisen können.“
Plünderer und Trickbetrüger festgenommen
In zehn besonders stark betroffenen Gebieten der Türkei gilt schon seit der Vorwoche der Ausnahmezustand. Dieser soll neben der Rettung Überlebender auch die Bekämpfung von Plünderern und Aufrührern erleichtern.
Am Samstag hatte es beispielsweise 48 Festnahmen gegeben. In der Provinz Hatay seien 42 Personen in Plünderungen involviert gewesen. In Gaziantep hätten sechs weitere versucht, Menschen telefonisch zu betrügen. Sie sollen vorgegeben haben, über Informationen bezüglich des Schicksals Angehöriger zu verfügen – und angeboten, diese gegen Geld herauszurücken.
Laut einem am 11. Februar im Amtsblatt veröffentlichten Dekret können Staatsanwälte bei Plünderungsdelikten Verdächtige nun für sieben statt bisher vier Tage in Präventionshaft nehmen.
Bauminister: 95 Prozent der eingestürzten Gebäude vor 2000 errichtet
Unterdessen wirft auch der Wahlkampf seine Schatten auf die Bemühungen in der Türkei, die Katastrophe zu bewältigen. Der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu warf Präsident Erdoğan am Sonntag einmal mehr vor, das Land nicht auf solch ein Beben vorbereitet zu haben. Vor allem kritisierte er ein Bau-Amnestiegesetz aus dem Jahr 2018.
Aufgrund dieses Gesetzes konnten Besitzer illegal errichteter Gebäude gegen Strafzahlung eine nachträgliche Baugenehmigung erwirken. Kılıçdaroğlu äußerte dazu:
Sie haben die Häuser, in denen die Menschen leben, zum Friedhof gemacht und dafür noch Geld genommen.“
Tatsächlich trugen unzureichende Bausubstanz, schadhaftes Material und Mängel in der Statik zum Einsturz Tausender Gebäude bei. Allerdings waren, wie Urbanisierungsminister Murat Kurum darlegte, 95 Prozent der eingestürzten Bauwerke vor 2000 errichtet worden. Zu diesem Zeitpunkt war zumeist Kılıçdaroğlus Partei, die CHP, die bestimmende Kraft in der türkischen Politik.
Landflucht in der Türkei als Faktor für illegale Bauführung
Die Türkei erlebte im 20. Jahrhundert eine enorme Landflucht. Viele Bürger gingen von der Fortdauer eines Gewohnheitsrechts aus dem Osmanischen Reich aus, wonach ein über Nacht errichtetes Bauwerk nicht abgerissen werden dürfe. Dadurch entstanden in türkischen Städten hunderttausende sogenannte Gecekondus, also behelfsmäßige Unterkünfte, die regelmäßig nicht üblichen Baustandards entsprachen.
Verwaltungen duldeten diese Bauten jedoch meist, weil sie halfen, eigene Mittel für Wohnbau einzusparen. Oft spielten auch Korruption und Schwarzarbeit eine Rolle. Wo staatliche Behörden versuchten, Zwangsräumungen durchzusetzen, stießen sie zum Teil auf militante Gegenwehr. Am Ende gaben Kommunen diese Versuche auf, weil sie politisch immer weniger ratsam erschienen.
Die Bewohner der Gecekondus bauten diese im Laufe der Jahrzehnte aus und modernisierten sie in Eigenregie – die ursprünglichen Mängel in Statik und Bausubstanz blieben jedoch bestehen. Das Amnestiegesetz von 2018 trug der Lebensrealität vor allem in türkischen Großstädten Rechnung.
Isoliervorrichtung schützte erfolgreich vier Krankenhäuser
Wie zentral die Ausstattung von Gebäuden mit erdbebensicherer Infrastruktur in der Türkei ist, zeigt das Beispiel von vier Krankenhäusern in Hatay und Malatya. Obwohl alle vier Einrichtungen im Epizentrum des Erdbebens angesiedelt waren, erlitten sie nicht die geringsten Schäden.
Wie „Hürriyet Daily News“ berichtete, waren in den Säulen der Gebäude seismische Isoliervorrichtungen eingebaut. Diese sind in der Lage, die Kraft der Erschütterungen von Erdbeben der Stärke 5 und darüber zu absorbieren. Zudem ermöglichen sie es, den Kontakt zwischen den Erdbeben und dem Gebäude zu unterbrechen. Das seit 2013 verwendete System reduziert die Wirkung von Erdbeben auf Gebäude um das Fünffache.
Auch in der Stadt Erzin in der Provinz Hatay kam es nur zu geringen Sachschäden durch das Erdbeben. Es gab dort keine Todesopfer. Bürgermeister Ökkeş Elmasoğlu hatte in der 40.000-Einwohner-Provinz eine harte Linie gegen Schwarzbauten praktiziert und diese in den meisten Fällen abreißen lassen.
Schwierige Versorgung von Erdbeben betroffener Gebiete in Syrien
Die Vereinten Nationen klagen unterdessen über eingeschränkte Möglichkeiten, dringend benötigte Hilfsgüter in die vom Krieg zerstörten Regionen Syriens zu bringen. Ein Konvoi mit Hilfsgütern für den Nordwesten Syriens konnte zuletzt über den türkischen Grenzübergang Bab al-Hawa in das Krisengebiet einreisen. Die Türkei will zudem zwei weitere Grenzübergänge öffnen.
Der Leiter der Katastrophenhilfsorganisation der Vereinten Nationen, Martin Griffiths, sagte, für Millionen Menschen, deren Häuser zerstört seien, reiche der bisherige Zugang nicht aus.
Hilfsinitiativen für Syrien stehen häufig vor dem Problem, dass die syrische Regierung nicht mehr die Kontrolle über sämtliche Gebiete des Landes hat. Vor allem in Norden des Landes kontrollieren zum Teil protürkische Milizen, zum Teil der PKK-Ableger YPG größere Territorien. Die Russische Föderation verfolgt zudem den Grenzverkehr zwischen der Türkei und Syrien mit Argwohn.
Grund dafür ist, dass in der Vergangenheit häufig Waffen für Rebellen auf diese Weise den Weg ins Land fanden. Die Türkei wiederum ist bestrebt, die Grenze zu Syrien scharf zu kontrollieren, weil auch die terroristische PKK häufig versucht hatte, Kämpfer und Kriegsmaterial zwischen den Ländern zu verschieben.
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