Stanford-Professorin macht Mathemuffeln Mut: „Jeder hat ein Grundrecht, sich an Mathe zu erfreuen“
Während mancherorts die Schüler noch ihre Ferien genießen, hat in einigen Bundesländern bereits die Schule wieder begonnen. Neben Lesen und Schreiben geht es vor allem auch um Mathematik, zumal Deutschland in der letzten PISA-Studie das schlechteste Ergebnis erzielte, das hier jemals durch PISA ermittelt wurde. In Kalifornien bemüht sich derzeit die renommierte Stanford-Professorin Jo Boaler und Lernforscherin, den Mathematikunterricht zu reformieren.
Schon im Jahr 2016 sorgte sie für Schlagzeilen. Der verbreitete Irrglaube unter Lehrern, dass nur kleine Kinder und Mathemuffel mit Fingern rechnen, habe „viel Schaden“ angerichtet, sagte die Professorin damals unter Verweis auf neurowissenschaftliche Studien.
In einem aktuellen Interview mit der „Frankfurter Allgemeine“ kritisiert Boaler, dass oft nur die Kinder als gute Schüler gelten, die gute Ergebnisse durch schnelles Auswendiglernen erzielen. Aber auch andere Kinder, die langsamer denken, verfügen nach ihrer Aussage über ein „erstaunliches Potenzial“, da sie sich eher durch tiefgründiges Denken grundlegende Zusammenhänge erschließen.
Dass diese Kinder aufgrund von schnelllebigen Wettbewerben denken, sie hätten kein Talent für Mathematik, bereitet der Forscherin Sorgen. „Mathematische Fakten sind nützlich. Es gibt aber viel bessere Wege, sie sich anzueignen als durch blindes Auswendiglernen“, erklärt Boaler – beispielsweise über andere Konzepte, Muster und visuelle Wahrnehmung.
Auf Einsteins Spuren
Heute wisse man, dass jeder Mathematik erlernen kann, und zwar auf hohem Niveau. Entscheidend sei die richtige Lernmethode, so Boaler.
Selbst Albert Einstein verließ das Gymnasium im Dezember 1894 als 15-Jähriger ohne Schulabschluss. Er kam mit der autoritären Haltung der Schule nicht zurecht. „Er wird es nie zu etwas bringen“, so die Worte seines Lehrers. Doch es kam anders.
Einstein holte sein Abitur erfolgreich nach und legte im Jahr 1900 ein Fachlehrerdiplom für Mathematik und Physik ab. Berühmt wurde er später mit der Relativitätstheorie und der Gleichung E = mc². Am 10. Dezember 1922 erhielt er den Nobelpreis für Physik.
Einstein war ständig bereit, aus seinen Fehlern zu lernen. Es machte ihm nichts aus, sich zu irren. Er prägte den Satz: „Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.“
„Er war ein visueller Lerner und nicht besonders zahlenorientiert“, schildert Boaler, die davon ausgeht, dass in jedem Menschen gewissermaßen ein Einstein steckt.
Von IQ-Tests hingegen hält sie überhaupt nichts und beschreibt dies als ein Messinstrument mit einem „sehr fragwürdigen historischen Hintergrund“. Der IQ-Test sei die Entwicklung eines Eugenikers, der beweisen wollte, dass schwarze Menschen minderwertig sind. „Viele Menschen sind vom Konzept des IQs begeistert, aber ich denke, er beruht auf einer sehr starren Vorstellung – dass es da eine feste Zahl gibt, die einem sagt, was man kann und was nicht“, so die Wissenschaftlerin.
Lernen fürs Leben
Statt Menschen nach Punkten zu bewerten oder in bestimmte Schubladen zu stecken, legt Boaler bei ihrer Arbeit den Schwerpunkt auf das Wissen, dass das Gehirn ständig wächst, sich verändert und entwickelt.
„Neurowissenschaftler werden Ihnen bestätigen, dass Sie immer mit einem anderen Gehirn aufwachen werden als dem, mit welchem Sie ins Bett gegangen sind“, schildert sie. So aktiv sei das Gehirn.
Auch aus historischer Sicht geht es nicht darum, im Mathematikunterricht in einer bestimmten Zeit möglichst viele Aufgaben ohne Fehler zu lösen.
„Mathematikunterricht wurde früher einmal in den Schulen eingeführt, weil die Leute addieren und subtrahieren lernen mussten, um in Geschäften arbeiten zu können“, schildert die Professorin aus Kalifornien. Damals gab es weder Taschenrechner noch Kassensysteme. Der gesamte Grundschullehrplan sei darauf ausgerichtet gewesen, Menschen diese Fähigkeiten beizubringen. Wenn man solche Rechnungen schnell durchführen konnte, war das den Schülern von Nutzen.
Aus Baolers Sicht muss der gesamte Lehrplan für Mathematik grundlegend überarbeitet werden. Gerade in Zeiten von KI und Computertechnologien beschreibt sie es als Schlüsselkompetenz, dass Schüler logisch denken und Probleme lösen können.
„Wir wollen, dass sie Algebra-Ausdrücke und Funktionen begreifen, darüber nachdenken, warum man sie verwendet und was die Ergebnisse aussagen. Stattdessen stellen die Schüler irgendwelche Berechnungen an, ohne deren Bedeutung zu verstehen“, schildert die Stanford-Professorin das aktuelle Dilemma.
Gegenwind für ein gerechteres Mathematiksystem
Doch nicht überall rennt Boaler mit ihrem Ansatz offene Türen ein. „Wir haben an einem gerechteren Mathematiksystem gearbeitet“, erklärt sie. Das beinhaltet, dass Kinder die Mathematik mit dem realen Leben verknüpfen – dazu gehöre auch ihre Kultur und die soziale Umgebung. Doch gerade solche innovativen Ansätze seien von einigen nicht gewünscht.
Vor allem bei Professoren für Mathematik, Informatik und Naturwissenschaftlern stoße sie damit auf Widerstand – also jenen Leuten, „die mit dem sehr ungerechten Schulsystem außerordentlich gut zurechtgekommen sind“.
„Sie haben ihre Identität, ihr Selbstverständnis auf der Idee aufgebaut, dass sie etwas ganz Besonderes sind, deshalb empfinden sie das als Bedrohung“, erklärt Boaler die aktuell eskalierte Debatte in ihrer Heimat.
Seit dem Jahr 2012 sieht sie sich und ihre Familie schweren akademischen und persönlichen Angriffen ausgesetzt, schrieb sie im März 2023 in ihrem Stanford-Profil. In den vergangenen drei Jahren hätten sich derartige Bemühungen weiter intensiviert. Den Grund dafür sieht sie darin, „dass Mathematik das einzige Schulfach ist, bei dem das Geld der Eltern entscheidet, ob ein Kind aufs College kommt“, erklärt sie im FAZ-Interview. Boaler geht davon aus, dass sie als Ziel der Angriffe regelrecht „herausgepickt“ wurde, weil der Erfolg für sich spricht und die anderen Autoren der Empfehlung unbekannter sind: „Wir betreiben eine große Plattform, die sich mit Mathematikunterricht auseinandersetzt und jeden Monat eine halbe Million Besucher hat.“
Um sie „strategisch mundtot“ zu machen, wurde Boaler akademisches Fehlverhalten vorgeworfen, was durch die Medien ging. Nachdem die Stanford-Universität sich mit dem Fall befasst hatte, beschloss sie, ihn nicht weiterzuverfolgen. „Stanford betrachtete es als einen politischen Akt“, erklärt die Professorin. Denn Bildung sei inzwischen „Teil eines Kulturkrieges“. Überall gebe es Menschen, die gegen eine Veränderung in der Mathematik seien – sicherlich auch in Deutschland.
Aus Boalers Stanford-Eintrag wird jedoch auch klar: „Trotz der fortgesetzten bösartigen Aktionen der organisierten Gruppe, die so sehr darauf bedacht ist, mich zu bedrohen, zu diffamieren und zu belästigen“, wird sie ihre Arbeit fortsetzen. Schließlich hätte jeder Schüler ein Grundrecht darauf, Mathematik zu lernen, zu verstehen – und vor allem, sich daran zu erfreuen.
Herausgeber: HarperCollins; 1. Edition (16. Februar 2021)
Gebundene Ausgabe: 240 Seiten
ISBN-10: 3959673965
ISBN-13: 978-3959673969
auch als Kindle-Version erhältlich
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