Kissinger: Schuld am Krieg nicht allein bei Putin – Ukraine sollte aber in die NATO

Ex-US-Außenminister Henry Kissinger widerspricht dem Narrativ, nur Russland trage die Schuld am Ukraine-Krieg. Dennoch befürwortet er einen NATO-Beitritt Kiews.
Spricht sich dafür aus, dass die Ukraine nach Kriegsende ins westliche Militärbündnis aufgenommen wird: Henry Kissinger (Archivbild).
Spricht sich dafür aus, dass die Ukraine nach Kriegsende ins westliche Militärbündnis aufgenommen wird: Henry Kissinger (Archivbild).Foto: Daniel Karmann/dpa
Von 25. Mai 2023

Am Samstag, 27. Mai, feiert der ehemalige US-Außenminister Henry A. Kissinger seinen 100. Geburtstag. Zuletzt weilte der erfahrene Diplomat in Europa – unter anderem, um am diesjährigen informellen Bilderberg-Treffen in Lissabon teilzunehmen. In einem Interview mit der „Zeit“ warnte Kissinger davor, die Vorgeschichte des Krieges in der Ukraine auszublenden. Zudem widersprach er dem westlichen Narrativ, wonach die alleinige Schuld an der Eskalation bei Russlands Präsident Wladimir Putin zu suchen sei.

Kissinger sieht keine Alternative mehr zu NATO-Mitgliedschaft der Ukraine

In dem ausführlichen Interview äußerte Kissinger zwar, die russische Militäroperation in der Ukraine sei ein „höchst rücksichtsloser Angriffskrieg“. Russland dürfe „nicht gewinnen“ und der „Widerstand der Ukrainer und des Westens“ sei legitim.

Dennoch sei er „nicht der Meinung, dass alle Schuld bei Putin“ liege. Vielmehr habe er bereits 2014 „ernste Zweifel“ an dem Vorhaben geäußert, die Ukraine in die NATO einzuladen:

Damit begann eine Reihe von Ereignissen, die in dem Krieg kulminiert sind.“

Die Ukraine, so Kissinger, wäre „am besten neutral geblieben […], mit einem Status ähnlich wie seinerzeit Finnland“.

Mittlerweile halte er diese Position aber für obsolet, da es „keine neutralen Zonen mehr zwischen der NATO und Russland“ gebe. Entsprechend sei er „absolut dafür, die Ukraine nach dem Ende des Krieges in die NATO aufzunehmen“.

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Haftbefehl gegen Putin macht Begrenzung des Krieges schwieriger

Allerdings mahnte der Diplomat auch dazu, eine Begrenzung des Krieges im Auge zu behalten. Der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag gegen Putin sei in diesem Zusammenhang nicht hilfreich. Eine Begrenzung des Krieges werde unmöglich oder sehr viel schwieriger, „wenn man den Ausgang des Krieges mit dem persönlichen Schicksal eines politischen Führers“ verknüpfe.

Grundsätzlich rechne er nicht damit, dass der russische Präsident im Ukraine-Krieg Atomwaffen einsetzen werde. Völlig auszuschließen sei dies jedoch nicht:

Je mehr es um den Kern der russischen Identität geht, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass er es tut.“

Territoriale Ansprüche bislang größtes Verhandlungshindernis

Seit Beginn der russischen Militäroperation am 24. Februar 2022 hatte Kissinger bereits mehrfach seine Vorstellungen über mögliche Verhandlungsoptionen dargelegt. Er wandte sich dabei gegen eine Preisgabe ukrainischer Gebiete, über die Russland nach Kriegsbeginn die Kontrolle erlangt hatte.

Allerdings hatte die vorwiegend von russischen Muttersprachlern bevölkerte Halbinsel Krim bereits 2014 ihre Sezession erklärt und war dem Staatsverband der Russischen Föderation beigetreten. Der Westen und die Führung in Kiew anerkannten aber weder die Volksabstimmung noch den Beitritt der Krim zur Russischen Föderation. Die Ukraine beansprucht nach wie vor die Wiederherstellung ihrer Hoheitsgewalt über das Gebiet.

Die Russische Föderation hatte zudem in den Tagen vor Beginn ihrer umfassenden Militäroperation in der Ukraine Truppen in Gebiete der Donbass-Regionen Donezk und Lugansk entsandt. Diese Regionen standen bereits seit dem Sturz der gewählten Regierung der Ukraine im Februar 2014 nicht mehr unter der Kontrolle Kiews. Das soll nach dem Willen des Kremls auch so bleiben.

Waffenstillstandslinien müssten keine endgültigen Grenzen markieren

Kissinger hatte sich unter anderem auch beim diesjährigen Treffen des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos im Januar zu Wort gemeldet. Damals äußerte er, die Kontaktlinien, die vor dem 24. Februar 2022 bestanden hatten, würden sich als Grundlage für einen Waffenstillstand eignen. Dies müsse jedoch nicht bedeuten, dass sie auch das Ergebnis späterer Friedensverhandlungen sein müssten.

Kurzfristige Verhandlungen würden „verhindern, dass der Krieg zu einem Krieg gegen Russland selbst wird“, sagte Kissinger. Zudem warnte er davor, angesichts des großen Atomwaffenarsenals des Landes Instabilität innerhalb Russlands zu provozieren. Gespräche würden Moskau „die Möglichkeit geben, sich wieder in ein internationales System einzufügen“.

Zuletzt gab Kissinger sich zuversichtlich, dass die Bemühungen des chinesischen KP-Regimes, den Krieg in der Ukraine zu beenden, Erfolg haben könnten. Gegenüber dem amerikanischen Sender CBS erklärte er:

Jetzt, da China in die Verhandlungen eingetreten ist, wird sich die Situation bis zum Ende des Jahres zuspitzen. Wir werden über Verhandlungsprozesse und sogar tatsächliche Verhandlungen sprechen.“

Kissinger sieht Potenzial in Chinas Zwölf-Punkte-Plan

Der Diplomat äußerte zudem, er wäre bereit, sich mit Präsident Putin in Moskau zu treffen, falls er „von einem Präsidenten darum gebeten“ würde. Allerdings sehe er seine Rolle auch in einem solchen Szenario nur als „Berater“ und nicht als „aktive Person“.

Das chinesische Regime hatte im Februar einen Zwölf-Punkte-Plan präsentiert, der einen Weg zum Frieden in der Ukraine weisen sollte. Kritiker zweifeln jedoch an der Ernsthaftigkeit des Friedenswillens Pekings, das zu den größten Profiteuren des Bruchs zwischen dem Westen und Russland zählt. Zudem ist der Plan wenig präzise formuliert und lässt zahlreiche Interpretationsspielräume offen.

Kissinger galt bereits in seiner aktiven Zeit als US-Außenminister als konziliant gegenüber China. Der ehemalige Außenminister Mike Pompeo hatte 2020 erklärt, der von Kissinger verfolgte Ansatz der „Diplomatie um jeden Preis“ gegenüber Peking habe sich als „Flop“ erwiesen.



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