Gesetz zum Schutz der Souveränität: EU-Kommission verklagt Ungarn
Einen Tag vor seinem Auftritt im Europaparlament am Mittwoch, 9. Oktober, erwartet Viktor Orbán einen harten Schlagabtausch über die ungarische EU-Ratspräsidentschaft.
Doch der Regierungschef liegt derzeit noch in einem anderen Punkt mit Brüssel im Clinch.
Die Europäische Kommission hat Ungarn wegen eines umstrittenen Gesetzes verklagt. Nach Ansicht der EU-Exekutive verstößt das sogenannte Souveränitätsverteidigungsgesetz gegen europäisches Recht.
Ungarn wird vorgeworfen, das durch das Gesetz geschaffene neue Regierungsamt zu nutzen, um die Meinungsfreiheit und andere Grundrechte einzuschränken.
Das Amt zur Verteidigung der Souveränität hat die Aufgabe, bestimmte Aktivitäten aufzudecken, die im Interesse anderer Staaten sowie ausländischer Organisationen und Personen begangen werden. Es untersucht auch, ob diese die Souveränität Ungarns verletzen oder nationale Sicherheit gefährden könnten. Besonderes Augenmerk gilt der Wahlbeeinflussung.
Einwände der Kommission
Im Februar 2024 übermittelte die Kommission laut eigener Angaben ein Aufforderungsschreiben an Budapest, in dem sie ihre Bedenken zum Ausdruck brachte. In ihrer Antwort schrieb die ungarische Regierung, dass das Gesetz nicht gegen EU-Recht verstoße und die vorgebrachten Bedenken unbegründet seien.
Die Kommission hielt die Antwort Ungarns auf den Brief nicht für angemessen. Nun beantragte sie am 3. Oktober ein beschleunigtes Gerichtsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, um den Sachverhalt zu klären.
Die Einwände der Kommission beziehen sich dabei auf Verstöße gegen eine Reihe von Grundfreiheiten. Diese sind in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert. Unter anderem gehört dazu das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, die Meinungs- und Informationsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, das Recht auf das anwaltliche Berufsgeheimnis sowie die Unschuldsvermutung und das daraus folgende Verbot der Selbstbelastung.
Die Europäische Kommission meint außerdem, dass das Gesetz gegen eine Reihe von Grundfreiheiten des Binnenmarktes, die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr, die Dienstleistungsrichtlinie und die EU-Datenschutzvorschriften verstoße.
Hintergrund: Ausländischer Geldfluss im Wahlkampf
Im April 2022 gewann Viktor Orbán die Parlamentswahlen mit einer erneuten Zweidrittelmehrheit und bildete daraufhin seine fünfte Regierung in Ungarn. Er nannte es einen „Sieg des Herzens“ – und sagte auch, dass er während des Wahlkampfs mit einem noch nie da gewesenen Gegenwind kämpfen musste.
Untersuchungen nach den Wahlen ergaben, dass mehr als 7,7 Millionen US-Dollar an ausländischem Kapital zur Unterstützung ungarischer NGOs verwendet wurden, die dann zur Finanzierung der Wahlkampagnen der Oppositionskandidaten beitrugen. Parteien in Ungarn dürfen keine ausländischen Gelder annehmen, NGOs hingegen schon.
Die Summe erhielten die Beteiligten aus unbekannten Quellen über die gemeinnützige Organisation Action for Democracy. Der damalige Ministerpräsidentenkandidat Péter Márki-Zay sagte später, dass die Organisation Gelder aus den Vereinigten Staaten erhalten habe.
Die Regierung argumentiert, sie wolle mit dem Souveränitätsgesetz in erster Linie auf diese Ereignisse reagieren. Darauf bezog sich Máté Kocsis, der Vorsitzende der Regierungspartei Fidesz, als er das Gesetz im November vergangenen Jahres im Parlament vorstellte.
Amt zur Verteidigung der Souveränität
Nach dem Gesetzestext werde die Souveränität Ungarns verletzt und die nationale Sicherheit bedroht, wenn die politische Macht in den Händen von Personen oder Organisationen liege, die von einer ausländischen Macht, Organisation oder Person abhängig sind.
Das neu geschaffene Amt habe daher die Aufgabe, gegen Einzelpersonen und Organisationen zu ermitteln, die im Verdacht stehen, die „nationale Souveränität“ und die „Verfassungsidentität“ des Landes zu untergraben.
„Die Welt ist in eine Ära großer globaler Veränderungen eingetreten. Durch Kriege in unserer Nachbarschaft, illegale Migration, Informations- und Kommunikationstechnologien, globalen Handel und Machtverschiebungen, den Kampf um Ressourcen und Einfluss und die wachsende Bedrohung durch den Terrorismus werden die Versuche ausländischer Einflussnahme wahrscheinlich zunehmen“, heißt es auf der Website des Amtes. Um diese möglichen Angriffe auf die nationale Souveränität abzuwehren, habe das Büro seine Arbeit aufgenommen.
Die Europäische Kommission kritisiert, dass das Gesetz dem Amt „weitreichende Befugnisse und einen großen Ermessensspielraum“ einräume. Dies werde unverhältnismäßig viele Einzelpersonen und Organisationen betreffen, darunter Organisationen der Zivilgesellschaft, Medienorganisationen und Journalisten, so die Exekutive in ihrer Erklärung.
Rechtsgruppen warnen: Willkür gegen NGOs
Seit der Veröffentlichung des Gesetzestextes wurde das neue Amt in Ungarn stark kritisiert. András Léderer vom Ungarischen Helsinki-Komitee erklärte gegenüber „444.hu“, dass „es sogar nicht mehr notwendig sei, dass jemand tatsächlich aus dem Ausland finanziert werde, sondern dass im Grunde jeder und jede Organisation aus jedem Grund untersucht werden kann“.
Gleichzeitig Dániel Döbrentey, Leiter des TASZ-Projekts für politische Freiheit, stellte die Unabhängigkeit der Behörde infrage. Sie ist „rechtlich autonom, aber da ihr Leiter vom Präsidenten der Republik auf Empfehlung des Premierministers ernannt wird, ist die Stellung des Amtes sehr offenkundig“, sagte er.
Laut oppositionsnahen Medienberichten gibt es Parallelen zwischen Orbáns Souveränitätsschutzgesetz und dem russischen Gesetz über ausländische Agenten. Sie kamen zu dem Schluss, dass die ungarische Regelung nicht so harte Strafen wie das russische Gesetz vorsieht, obwohl auch in Ungarn bis zu drei Jahre Haft drohen.
Das russische Gesetz schränkt auch die Rechte von Unternehmen und Einzelpersonen, die als ausländische Agenten registriert sind, in vielerlei Hinsicht ein. Das ungarische Gesetz erlaubt dies nicht direkt, lässt aber die Möglichkeit offen, gegen praktisch jedermann mit beliebiger Schärfe zu ermitteln.
Experte: Ungarn folgt amerikanischen Beispiel
Das Souveränitätsschutzgesetz basiere nicht auf dem russischen, sondern auf dem amerikanischen Beispiel, erklärte ein Experte im ungarischen Staatsfernsehen. Zoltán Kiszelly, Politikwissenschaftler und Direktor des Zentrums für Politikanalyse Századvég, betont, dass auch die Vereinigten Staaten ein Agentenschutzgesetz haben.
„Die Amerikaner wollten schon immer ausländischen Einfluss ausschließen, was für ein souveränes Land richtig ist.“ Kiszelly bezog sich dabei auf den „Foreign Agents Registration Act“ der USA von 1937.
Er betonte auch, dass Russland keine Demokratie westlicher Prägung wie Ungarn sei. Daher sei die russische Gesetzgebung nicht mit der ungarischen vergleichbar, da Ungarn den amerikanischen und israelischen Beispielen folge.
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