Ex-EU-Kabinettschefin: „Die EU hat sich in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit manövriert“

Petra Erler war Kabinettschefin eines EU-Kommissars – heute warnt sie vor dem geopolitischen Abstieg Europas. Im Interview mit Epoch Times spricht sie über die entscheidende Wahl, vor der Europa steht: Krieg oder Frieden.
Russland setzt auf ein Treffen zwischen Kremlchef Putin und US-Präsident Trump zur Lösung des Ukrainekriegs. (Archivbild)
Eine Lösung des Ukraine-Kriegs liegt nun ausschließlich in den Händen der USA und von Russland, sagt die ehemalige EU-Kabinettschefin Petra Erler. (Archivbild).Foto: Susan Walsh/AP/dpa
Von 27. März 2025

Petra Erler ist in der DDR geboren und arbeitete nach den ersten freien und demokratischen Wahlen 1990 im Außenministerium und als Staatssekretärin. Von 2006 bis 2010 war sie Kabinettschefin von EU-Kommissar Günter Verheugen. Zusammen mit ihm hat sie im letzten Jahr das Buch „Der lange Weg zum Krieg: Russland, die Ukraine und der Westen – Eskalation statt Entspannung“ herausgebracht.

Sie haben vier Jahre für die EU-Kommission als Kabinettschefin von EU-Kommissar Günter Verheugen gearbeitet. 2012 hat die EU den Friedensnobelpreis bekommen. Erkennen sie diese Union heute noch wieder?

Nein. Die heutigen EU-Institutionen haben sich politisch vom eigentlichen Integrationsauftrag, Frieden und Aussöhnung unter den europäischen Völkern zu befördern, weit entfernt. Ein vergleichbarer Prozess ist in den allermeisten EU-Staaten abgelaufen. In dem Maße, wie eine Unterwerfung unter die USA und die NATO stattfand, ging die Fähigkeit zur kühlen Einschätzung eigener Interessen und zur realistischen Wahrnehmung der Veränderungen in der Welt verloren.

Die EU hat sich so in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit manövriert, und wenn sie so weitermacht, wird auch ihr wirtschaftlicher Niedergang beschleunigter ablaufen als prognostiziert. Es gibt keine eigenständige EU-Handschrift, wie in einer multipolaren Welt Konflikten vorgebeugt werden soll oder sich bestehende Konflikte lösen lassen könnten. Dabei hätte sie das Potenzial.

Die Ukraine, die EU-Mitglied werden will, hat kürzlich die Verhandlungsführung mit Russland an die USA abgegeben. Und wie lauteten die Reaktionen in der EU? Dem US-Außenminister wurde nachgeplappert: Nun liegt der Ball im russischen Feld. Die EU hat gar keinen Ball im Spiel. Leider ist das keine Realsatire. Es ist eine Tragödie.

Während die USA, Russland und die Ukraine ein Ende des Krieges ausloten, setzen die Europäer auf verstärkte Militärhilfen, Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit. Was ist das Ziel dieser Agenda und wer sind die Antreiber?

Das mögliche Ende eines Krieges in der Ukraine liegt nun ausschließlich in den Händen der beiden großen Kontrahenten, den USA und Russland. Beide Seiten haben erkennbar einen Willen zur Annäherung, aber ein dauerhafter, stabiler Frieden scheint mir nur möglich, wenn die Kriegsursachen beseitigt werden.

Die EU und Großbritannien scheinen zu glauben, dass ein verlorener Krieg, der mit den USA geführt wurde, nun ohne die USA gewinnbar ist. Sie scheinen anhaltend vom Ziel besessen, Russland zu besiegen und niederzuwerfen. Das lässt sich nicht mehr mit kühler Realitätsanalyse und klarer Interessenpolitik erklären. Allenfalls mit wenig schmeichelhaftem Vokabular, das in psychiatrischen Diagnosen eine Rolle spielt.

Tatsächlich spielen die EU und Großbritannien dadurch sowohl Russland als auch den USA in die Hände. Mit jedem Tag, den der Krieg länger dauert, verblutet ein weiteres Stück der Ukraine. Gleichzeitig gehen die NATO-Vorräte zur Neige. Sie entmilitarisiert sich selbst. Die USA werden der Hauptnutznießer der geplanten drastisch erhöhten Rüstungsausgaben in der EU und in Großbritannien sein. Die EU macht sich so selbst zum geopolitischen Verlierer. Besonders besorgniserregend finde ich die deutsche Militarisierung. Sie wird vom Geschrei wiedergefundener nationaler Größe begleitet und vom Willen, selbst demokratische Spielregeln über Bord zu werfen.

Die ehemalige EU-Kabinettschefin Petra Erler analysiert das Zeitgeschehen auf ihrem Substack-Blog „Nachrichten einer Leuchtturmwärterin“. Foto: Petra Erler

Donald Trump hat angekündigt, nur noch NATO-Staaten zu verteidigen, die „einen bestimmten Prozentsatz“ ihres Bruttoinlandsprodukts für die Rüstung und Militär ausgeben. Zudem hat er angedeutet, ganz aus der NATO auszusteigen. Sind unter diesen Umständen höhere Verteidigungsausgaben keine notwendige Konsequenz?

Mein Verständnis nach dem Besuch des NATO-Generalsekretärs Rutte in den USA ist, dass Trump an der NATO festhält, ohne Wenn und Aber. Er besteht allerdings, so wie in seiner ersten Amtszeit, auf mehr Rüstungsanstrengungen durch die europäischen Partner. Den Hintergrund hat Rutte ebenfalls genannt: Im Rüstungsbereich besteht ein Verhältnis von 4:1 zugunsten der USA. Also von 100 Euro Verteidigungsausgaben bei uns fließen 75 als Aufträge an die US-Wirtschaft. Für Trump ist das ein Konjunkturprogramm für seine Rüstungsunternehmen.

Braucht es also mehr Aufträge für europäische Rüstungsunternehmen, wie es Ursula von der Leyen jetzt propagiert?

Es ist möglich, dass die Befürworter von drastisch gestiegenen EU-Rüstungsausgaben so denken. Nur die Realität ist ein bisschen anders. Die Mehrheit dessen, was angeblich nun gebraucht wird, kann nicht in der EU produziert werden. Sie hat dafür schlicht nicht das Know-how, nicht die qualifizierten Kräfte. Dann kommen noch die hohen Energiekosten dazu, die Rohstoffarmut der EU.

Wer glaubt, dass sich in der EU in wenigen Jahren eine Rüstungswirtschaft aufbauen ließe, die einerseits kostengünstig wäre und andererseits technologische Spitzenklasse repräsentiert, träumt. Der offizielle Beschaffungsrausch stärkt zudem die Marktmacht der Rüstungsproduzenten. Für einige EU-Anbieter wird das definitiv zum Eldorado, wie etwa für Rheinmetall. Ob die neue Hochrüstung mit einem Mehr an militärischer Schlagkraft einhergeht, ist ein ganz anderes Thema.

Auf Ihrem Blog Nachrichten einer Leuchtturmwärterin” schreiben Sie, die Biden-Regierung habe die Ukraine geopfert. Können Sie das kurz erläutern?

In „TIME“ war am 18. Januar 2025 nachzulesen, dass die Biden-Administration von Anfang an gewusst hat, dass die Ukraine Russland niemals militärisch besiegen kann. Die Quelle dafür war der zuständige Mitarbeiter im Nationalen Sicherheitsrat.

Trotzdem haben die USA einen frühen Friedensschluss im Frühjahr 2022 verhindert und öffentlich auf „Siegfrieden“ gesetzt. Die Ukraine sollte auf dem Schlachtfeld Russland besiegen, der Westen versprach, ihr mit allem beizustehen, was nottäte – mit Sanktionen, Geld, militärischer Ausrüstung. Um die Ukrainer bei Laune zu halten, wurde gelogen, dass sich die Balken biegen.

Biden erklärte 2023, Russland habe bereits strategisch verloren. Sogenannte Experten sagten voraus, dass die Krim im August 2023 wieder ukrainisch sein würde. Nichts davon entsprach der Kriegswirklichkeit. Bei „TIME“ hieß es auch, am Ende sei die Biden-Administration sich noch nicht mal sicher gewesen, ob die Ukraine den Krieg als Land überhaupt überlebt.

Es war der Biden-Administration völlig egal, welchen hohen Preis die Ukraine zahlen muss, für ihr Bestreben, Russland strategisch zu schwächen oder gar niederzuwerfen. Zur Tragik von Selenskyj gehört, dass er nicht im Frühling 2022 an den Friedensverhandlungen mit Russland festhielt, sondern sein Land zum westlichen Opferlamm machte.

Sie zitieren auch den ehemaligen spanischen Botschafter in Georgien, José Zorrilla. Dieser erklärt bezüglich des westlichen Narrativs: „Alles ist falsch.“ Sowohl Diplomaten als auch die Militärs hätten die Wahrheit gekannt über die Regimewechselpolitik der USA, den Maidan, über alle späteren Entwicklungen im Konflikt mit Russland. Trotzdem lenkte niemand ein. Wann ist Europa falsch abgebogen?

Ich weiß nicht genau, wann die EU zum letzten Mal falsch abgebogen ist. War es, als sie 2011 den Dialog mit Russland einstellte? War es, als Deutschland, Frankreich und Polen 2014 nicht auf einer politischen Lösung des Konflikts in der Ukraine bestanden? War es, als die Ukraine politisch assoziiert wurde, ohne Bedingungen zu stellen? War es das falsche Spiel mit den Abkommen von Minsk? War es, als die EU nicht gegen die USA aufstand, um den INF-Vertrag zu behalten? [Anm. d. Red.: Der INF-Vertrag war ein Vertrag zwischen den USA und der UdSSR/Russland über die Vernichtung von nuklearen Mittelstreckenraketen.]

Ich denke, es war ein schleichender Prozess, in dem die Verantwortung für unseren Kontinent immer mehr in US-Hände abgegeben wurde. Gleichzeitig baute sich überall ein Klima des Russenhasses auf. Das unsägliche Böse wurde wieder im Osten verortet.

Die Rede von JD Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz kann man als Appell an Europa verstehen, sich zu besinnen und zu seinen Werten zurückzufinden. Ist die Trump-Regierung an einem starken Europa interessiert, das zu einem ernst zu nehmenden Akteur auf der internationalen Bühne wird?

Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Ich verstand die Rede von Vance als wohlüberlegte Provokation eines Wahlsiegers, den das westliche Europa nicht haben wollte, genauer gesagt als Albtraum betrachtet. Nicht nur die deutschen Eliten banden sich blind an die abgewählte Administration. Aus der Sicht von Trump und Vance sind sie damit ebenfalls Verlierer. Deshalb hat Trump auch der EU eine Mitschuld gegeben, dass der Krieg in der Ukraine noch immer tobt. Dass Vance warnte, dass sich Demokratien nur selbst zerstören können, ist nicht von der Hand zu weisen.

Nur Vance ist der falsche Bote, denn auch jenseits des Atlantiks gilt: Meinungsfreiheit ist nur grundsätzlich gut und schön, aber nicht für alle Fragen und schon gar nicht, wenn es um Israel geht. Die USA wollen das Verhältnis mit Russland normalisieren, was immens wichtig wäre, aber sie sind kein auferstandener Friedensengel. Sie bombardieren den Jemen, bauen Drohkulissen gegen China auf. Der Waffenstillstand im Gazastreifen ist gescheitert, und die USA unterstützen das auch noch.

Das alles sind typische Anzeichen eines niedergehenden Imperiums, das seinen Verfall mit allen Mitteln aufhalten will, aber es nicht mehr kann. Das macht unsere Zeit auch so extrem gefährlich. Die Gefahr ist groß, dass die großen westeuropäischen Staaten in diesem Strudel mit verschlungen werden. Denn für diese war die US-Hegemonie die bequemste Lösung, sich weiter in vergangenem globalem Glanz zu sonnen, sich gewissermaßen als „kleiner Bruder“ ebenfalls dem „Rest“ der Welt überlegen zu fühlen. Nur, dass die Trump-Administration sich nicht wie ein großer, gütiger Bruder gebärdet. Das waren übrigens auch die früheren US-Administrationen nicht. Sie hatten nur ein vornehmeres Vokabular und waren noch nicht im akuten Zwang, nun alle möglichen Partner zu fleddern, darunter auch die EU, um die USA zu stabilisieren.

Gestatten Sie mir noch eine letzte Frage beziehungsweise eine Prognose. Oft wird mit der Jahreszahl 2030 hantiert. So soll zum Beispiel Deutschland bis 2030 kriegstüchtig sein. Werden sich Staaten der Europäischen Union in fünf Jahren im Krieg befinden?

Ob sich die EU 2030 oder schon vorher im Krieg befinden wird, hängt allein von ihr ab. Ich halte es für ausgeschlossen, dass Russland einen europäischen NATO-Staat angreifen wird, aber es wird sich verteidigen, sollte es dazu gezwungen sein. Ich rate jedem, sich mit den Hintergründen des Stationierungsbeschlusses für neue US-Waffen ab 2026 in Deutschland zu beschäftigen. Es wird immer vom Schließen einer sogenannten „Fähigkeitslücke“ gesprochen. Die sogenannte „Lücke“ besteht darin, dass die USA/NATO die aktuelle Verteidigung Russlands nicht überwinden kann. Davon unabhängig sehe ich mit höchstem Unbehagen, wie in Deutschland alte Großmannsgelüste erwachen. Ich hoffe, die EU- und NATO-Bande ist stark genug, das einzuhegen.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.



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