EU stoppt Milliardenhilfe für Ungarn – doch Orbán bleibt siegessicher
Zum ersten Mal in der Geschichte der EU droht einem Mitgliedstaat der Verlust von EU-Hilfsgeldern aus dem Kohäsionsfonds. Bis zum 31. Dezember gingen Ungarn laut der Europäischen Kommission über eine Milliarde Euro endgültig verloren.
Oder doch nicht? Die ungarische Regierung äußert sich dahingehend, dass es immer noch eine politische und rechtliche Chance für das Land gebe, das Geld zu bekommen.
Bei den verfallenen Mitteln handelt es sich um 1,04 Milliarden Euro, die für Ungarn aus Programmen zur Förderung strukturschwacher Gebiete vorgesehen waren. Die Gelder waren Ende 2022 eingefroren worden, weil die EU-Kommission zum Schluss gekommen war, dass Ungarn verschiedene EU-Standards und Grundwerte missachte.
Zur Freigabe der Gelder hätte Ungarn bis zum Jahresende ausreichende Reformen umsetzen müssen. Dazu gehören unter anderem Änderungen von Gesetzen zur Vermeidung von Interessenkonflikten und Korruptionsbekämpfung. Das ist aber Brüssel zufolge nicht passiert.
Seit dem Jahr 2020 zieht sich nun die Debatte um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Ungarn hin. Die ungarische Regierung sieht darin einen nicht enden wollenden politischen Angriff der EU.
Orbán: „Das Geld wird kommen“
Der ungarische Ministerpräsident zeigte sich Ende Dezember optimistisch, was die Gelder aus Brüssel angeht. Viktor Orbán erinnerte daran, dass Ungarn derzeit mehr als 12 Milliarden Euro an EU-Mitteln zusteht, die in die ungarische Wirtschaft fließen könnten. Dieses Geld werde den Bedarf der ungarischen Wirtschaft bis Ende 2026 decken, sagte er in einem Interview mit dem ungarischen Radiosender „Kossuth“.
Er fügte hinzu, dass Budapest seiner Meinung nach keine zusätzlichen Mittel verlieren werde. „Wir werden sie bekommen, weil die Verhandlungen über den Haushalt für die nächsten sieben Jahre nach 2027 begonnen haben, der einstimmig beschlossen werden muss. Und was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass wir das Geld, das wir 2025–26 nicht bekommen haben, in den Jahren 2027–2028 bekommen müssen.“
„Andernfalls wird die Union keinen Haushalt haben und wir werden keinen Beitrag dazu leisten“, sagte Orbán. Er meinte, es gebe absolut keinen Grund, sich um EU-Gelder zu sorgen. „Es gibt eine Menge Unannehmlichkeiten“, aber es bestehe kein Zweifel, dass diese Gelder in der ungarischen Wirtschaft ankommen werden, betonte er.
Schon Anfang Dezember drohte Orban mit einem Veto gegen den nächsten Sieben-Jahre-Haushalt der EU, falls Brüssel blockierte EU-Gelder nicht freigeben sollte. Über den nächsten langfristigen EU-Haushalt von 2028 bis 2035 beginnen die Verhandlungen voraussichtlich Mitte 2025.
Staatssekretärin: Es sei nicht verständlich, was die EU noch beanstandet
Orbáns Aussagen wurden vergangene Woche von Bernadett Petri, der ungarischen Staatssekretärin, die für die Koordinierung der Verwendung der EU-Mittel zuständig ist, bekräftigt. Der Beamtin zufolge gibt es für das Land immer noch politische und rechtliche Möglichkeiten, das Geld zu bekommen.
Petri zufolge „ist es aus Sicht der ungarischen Regierung nicht verständlich, was die EU noch beanstandet, da die Regierung die Anforderungen des entsprechenden EU-Beschlusses von 2022 in jeder Hinsicht erfüllt hat“.
In einer Sendung von „Inforadio“ erinnerte sie daran, dass der Prozess mit der Schaffung eines jährlichen sogenannten Rechtsstaatlichkeitsmechanismus im Jahr 2021 durch die Europäische Kommission begann. Dadurch wurde der Zugang zu EU-Mitteln von verschiedenen politischen Erwartungen abhängig gemacht, erklärte die Staatssekretärin.
Im Jahr 2022 folgte die Entscheidung, 55 Prozent der EU-Mittel für Ungarn auszusetzen. Nachdem der Beschluss in Kraft getreten war, begann das „lange Gerangel zwischen der ungarischen Regierung und Brüssel“.
In der Zwischenzeit wurde ein erheblicher Teil der Mittel freigegeben, „da Ungarn eine Reihe von Verpflichtungen erfüllt hatte, die dies ermöglichten“, so Petri. Allerdings stellte Brüssel immer mehr Forderungen, sodass es nun zu einer Pattsituation gekommen sei. „Das kann durch neue Verhandlungen in diesem Jahr gelöst werden, die einen Wandel und neuen Schwung in diese Angelegenheit bringen können“, sagte die frühere Beraterin für das EU-Parlament und die Kommission.
Die Erwartungen Brüssels erfüllen – was die Regierung tut und was nicht
Im vergangenen Sommer analysierte die ungarische Menschenrechtsorganisation „Helsinki Komitee“, wo die ungarische Regierung steht und wie die Situation in Ungarn sich von den Brüsseler Erwartungen unterscheidet. Ab dem EU-Haushaltszyklus 2021–2027 unterliege nämlich der Zugang zu EU-Mitteln in Brüssel strengeren Bedingungen als zuvor. Nur die Mitgliedsstaaten, die die sogenannten „horizontalen Förderkriterien“ erfüllen, erhalten die volle Summe an Hilfen.
Davon gibt es vier: Das Vorhandensein von gesetzlichen Regelungen, die eine Kontrolle über die öffentlichen Vergabeverfahren ermöglichen; die Einhaltung der EU-Vorschriften für staatliche Beihilfen; die Achtung der Rechte von Menschen mit Behinderungen; sowie die Einhaltung der EU-Charta der Grundrechte.
Die Nichtregierungsorganisation (NGO) schrieb, dass Ungarn zwar die ersten drei Bedingungen erfülle, aber bei der vierten Bedingung, den Grundrechten, gebe es der EU zufolge beträchtliche Probleme.
Die Verstöße betreffen der NGO zufolge besonders die Gewährleistung der unabhängigen Justiz. Kritisiert werden zudem die Bestimmungen des „Kinderschutzgesetzes“ aus dem Jahr 2021 und weitere angebliche homo- und transphobe Gesetze. Die Europäische Union kritisiert das ungarische Kinderschutzgesetz auch deswegen, weil es ihrer Ansicht nach die Rechte von LGBTQ+-Personen einschränke und gegen die Werte der EU verstoße. Die ungarische Regierung hingegen betrachtet das Gesetz als notwendigen Schutz für Minderjährige.
Die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung werde zudem der EU zufolge auch verletzt und der Zugang zum Asylverfahren sei für Flüchtlinge nicht gewährleistet.
Rechtsstreitigkeiten zur Bewertung der Einhaltung der Kriterien
Allerdings ist die offizielle Bewertung, ob ein Land die Brüsseler Anforderungen tatsächlich erfüllt oder nicht, keine einfache Angelegenheit. Ungarn befindet sich derzeit in einem Rechtsstreit zu dieser Frage.
Laut Petri sind die Bedingungen sehr komplex: 54 Bedingungen und 27 Meilensteine gibt es im gesamten Prozess der Aufhebung einer Blockade der Hilfsgelder.
Die Staatssekretärin erinnert auch an den aktuellen Streit zwischen der ungarischen Regierung und der EU. Politische Kriterien seien nämlich auch in das Verfahren einbezogen, die schon Gegenstand eines Rechtsstreits seien.
Außerdem sagte Petri, dass die ungarische Regierung allen gegenteiligen Gerüchten zum Trotz die Erwartungen in Bezug auf das Justizsystem und das öffentliche Auftragswesen erfüllt habe. Diesbezügliche Rechtsstreitigkeiten sind in Zukunft daher auch nicht auszuschließen.
„Die ungarische Regierung hat alle Bedingungen für die Freigabe der EU-Ressourcen erfüllt“, schrieb auch der ungarische Europa-Minister János Boka vor dem Jahreswechsel auf seiner Facebook-Seite. „Brüssel will die Gelder, die Ungarn und den ungarischen Menschen zustehen, aus politischen Gründen wegnehmen“, fügte er hinzu.
Es drohen weitere Milliardenverluste
Sollte Ungarn keine – aus der Sicht der EU – ausreichenden Reformen umsetzen, droht in Zukunft jedoch der Verlust weiterer Milliardensummen. Nach den Regeln des seit 2021 geltenden EU-Rechtsstaatlichkeitsmechanismus verfallen darüber eingefrorene Gelder am Ende des zweiten Kalenderjahres nach dem Jahr, für das sie eingeplant waren. Ende dieses Jahres würden damit die für das Jahr 2023 eingeplanten Mittel verfallen.
Insgesamt waren aus dem mehrjährigen Gemeinschaftshaushalt 2021–2027 Ende 2022 rund 6,3 Milliarden Euro für Ungarn über den Mechanismus eingefrorenen worden. Weitere Milliardensummen für das Land sind über andere Regelungen blockiert. Zuletzt ging es nach Kommissionsangaben um rund 19 Milliarden Euro – die Summe entspricht in etwa einem Zehntel der jährlichen Wirtschaftsleistung Ungarns.
(Mit Material der Nachrichtenagenturen)
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