Erdoğan mobilisiert auf den letzten Metern – Wahlausgang in der Türkei völlig offen

Am Sonntag entscheiden die Wähler in der Türkei darüber, ob Präsident Erdoğan noch eine weitere Amtszeit bekommt. Das Rennen ist wieder völlig offen.
Menschen spiegeln sich in einem Wahlkampfplakat des türkischen Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten der Volksallianz, Erdogan. Am 14. Mai finden in der Türkei die Parlaments- und Präsidentenwahlen statt.
Menschen spiegeln sich in einem Wahlkampfplakat des türkischen Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten der Volksallianz, Erdoğan. Am 14. Mai finden in der Türkei die Parlaments- und Präsidentenwahlen statt.Foto: Francisco Seco/AP
Von 13. Mai 2023

Am kommenden Sonntag, 14. Mai, werden rund 64,3 Millionen Türken ihren Präsidenten und die 600 Abgeordnete umfassende Große Nationalversammlung wählen. Etwa sechs Millionen von ihnen sind Erstwähler. Der seit 2014 regierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan lag noch vor wenigen Wochen in Umfragen deutlich hinter seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu. Zuletzt hat der konservative Amtsinhaber jedoch eine massive Aufholjagd hingelegt. Eine mögliche Stichwahl um das Präsidentenamt würde am 28. Mai stattfinden.

Erdoğan fordert erneut neue Verfassung für die Türkei

Für den Fall seiner Wiederwahl hat Erdoğan am Mittwoch eine neue Verfassung angekündigt. Wie „Hürriyet Daily News“ berichtet, äußerte der Präsident im Rahmen der 155-Jahr-Feier der Gründung des türkischen Staatsrates:

Wir wollen eine neue zivile und freiheitliche Verfassung, die den nationalen Geist der Türkei atmet. Wenn wir das erreichen, lassen wir die letzten Wolken über unserer Demokratie verschwinden. Das wird eines der wichtigsten Ziele innerhalb unserer Vision vom Jahrhundert der Türkei sein.“

Der Präsident stellte in Aussicht, die geplante neue Verfassung würde auch die Unabhängigkeit der Justiz stärken. Dazu sei es jedoch auch erforderlich gewesen, das Prinzip der „Unparteilichkeit“ abzusichern. Erdoğan erklärte in diesem Zusammenhang, es sei gelungen, die Justiz von „alten Disputen“ zu befreien. Damit spielte er offenbar auf die umfangreichen Maßnahmen gegen mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung im Justizapparat an.

Die prowestliche islamische Freiwilligenbewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen wird in der Türkei regierungsamtlich als Terrororganisation „FETÖ“ bezeichnet. Die Regierung macht sie für den vereitelten Putschversuch von 2016 verantwortlich. In den 2000er-Jahren hatten Angehörige des hauptsächlich von Akademikern getragenen Netzwerks erheblichen Einfluss in staatlichen Organisationen erlangt.

Ausgang der Parlamentswahlen ebenfalls völlig offen

Erdoğan will das Thema der neuen Verfassung nach den Wahlen zu einer Priorität machen. Allerdings sind zur Änderung der Verfassung durch die Nationalversammlung mindestens 400 Stimmen erforderlich. Änderungsvorschläge, die mindestens 360 Stimmen erhalten, können zum Gegenstand eines Referendums werden.

Die regierende AKP hatte bereits in den 2010er-Jahren mehrfach eine neue Verfassung für die Türkei angestrebt. Allerdings gelang es ihr nicht, die dafür erforderlichen qualifizierten Mehrheiten im Parlament zu erlangen.

Im Jahr 2017 nahm die türkische Bevölkerung jedoch mit knapper Mehrheit ein Bündel an Veränderungsvorschlägen zur Verfassung an. Dies ermöglichte die Einrichtung eines Präsidialsystems und eine stärkere Gewaltenteilung. Die Opposition möchte das Präsidialsystem im Fall eines Wahlsieges wieder abschaffen.

Der Ausgang der Parlamentswahlen ist ebenso offen wie jener der Präsidentschaftswahlen. Viele Parteien und Bündnisse der heterogenen Koalition hinter Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu treten bei den Parlamentswahlen eigenständig an.

Erdbeben mit ungewissen Auswirkungen auf das Wählerverhalten

Zu den großen Unbekannten, die den Ausgang der Wahlen in der Türkei am Sonntag entscheidend beeinflussen werden, gehören die verheerenden Erdbeben im Februar des Jahres. Fast 60.000 Menschen starben bei der Katastrophe in der Türkei, mehrere tausend auch in Syrien. Mehr als fünf Millionen Menschen waren von den Folgen der Erdstöße betroffen, vier Millionen Häuser wurden beschädigt.

Die Opposition hofft darauf, dass Wähler die AKP-Regierung für die Schäden mitverantwortlich machen. Zum Ausmaß der Schäden haben Bauführungen beigetragen, die bereits lange Zeit vor deren Regierungsübernahme im Jahr 2002 gesetzt worden waren. Allerdings verabschiedete die AKP ein Amnestiegesetz, das den häufig provisorisch und ohne strenge Prüfung errichteten Bauwerken einen Bestandschutz verlieh.

Allerdings hat die Regierung in den Wochen und Monaten nach der Erdbebenkatastrophe Handlungsfähigkeit gezeigt. In kurzer Zeit ist es ihr gelungen, hochwertige Ersatzquartiere für die Betroffenen zu errichten und entsprechende finanzielle Hilfsmittel zu mobilisieren. Ein erheblicher Teil der türkischen Bevölkerung nimmt das Krisenmanagement der Regierung als professionell wahr.

Inflation in der Türkei deutlich zurückgegangen

Ein weiteres Problem, das Erdoğan und der Regierung in den vergangenen Monaten schwer zu schaffen machte, war die Inflation. Diese hatte hohe zweistellige Ausmaße angenommen, wie sie zuvor im 21. Jahrhundert noch nicht aufgetreten waren.

Die türkische Regierung bestand jedoch darauf, die Teuerung ohne Zinserhöhungen in den Griff zu bekommen. Der Druck auf die Notenbank war entsprechend hoch. Immerhin ist es im Laufe der vergangenen sechs Monate gelungen, die Inflationsrate um 42 Prozentpunkte zu drücken. Das Inflationsziel der Regierung liegt für dieses Jahr bei 23,9 Prozent.

Finanzminister Nureddin Nebati zeigte sich jüngst zuversichtlich, die Inflationsrate in den einstelligen Bereich zu bringen. Ein Weg dazu sei das Budget für das Jahr 2023 gewesen. Trotz der außergewöhnlichen Belastungen infolge des Erdbebens hätten sich ausreichend Finanzierungsquellen gefunden.

Alte Wunden sitzen weiterhin tief

Obwohl das wirtschaftliche Umfeld schwierig ist, was für die Opposition eine gute Ausgangsposition schafft, ist es ungewiss, ob das Bündnis tatsächlich davon profitieren wird. Ein weiterer wesentlicher Faktor, der die Wahlentscheidung beeinflussen wird, sind historische Traumata und Wunden, die immer noch die türkische Gesellschaft prägen.

Zwar hat der Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu mehrfach für Ereignisse in der Zeit der CHP-Regierungen des 20. Jahrhunderts Abbitte geleistet. Dazu gehörten etwa harte Repressionen gegen religiöse Muslime, Kopftuch tragende Frauen oder Angehörige ethnischer oder sprachlicher Minderheiten.

Dennoch gibt es eine erhebliche Anzahl an Türken, die aus genau diesem Grund der CHP aus prinzipiellen Gründen nie die Stimme geben würden – auch, wenn sie mit der Regierung unzufrieden sind. Ähnliches gilt auch für Türken, die Anstoß an der stillschweigenden Unterstützung Kılıçdaroğlus durch die in den Kurdengebieten starke HDP nehmen. Viele betrachten die HDP als politischen Arm der terroristischen PKK. Um einer drohenden Schließung der Partei vorzubeugen, treten HDP-Kandidaten diesmal auf der Liste der Grünen Partei an. Bei unentschlossenen konservativen Wählern könnte die fehlende Distanz Kılıçdaroğlus zur HDP diesem schaden.

Erdoğan gilt vielen als Garant türkischer Stärke und Unabhängigkeit

Der in Krefeld geborene und vor einigen Jahren in die Türkei gezogene Mentaltrainer Mustafa Mira Yilmaz spricht gegenüber der Epoch Times von der „wohl wichtigsten Wahl in der Geschichte“. So werde das auch in der Türkei wahrgenommen und die Spannung sei hoch. Von der Opposition ist er nicht überzeugt. Diese habe keine überzeugenden Konzepte und setze ausschließlich auf Obstruktion:

Die Opposition ist ja nicht wirklich eine Opposition. Die haben sich nur zusammengetan, um RTE [Recep Tayyip Erdoğan] zu stürzen. Nichts anderes ist deren Ziel […], die haben ja bis heute noch nicht irgendein Projekt vorgestellt.“

Auch außenpolitisch sei es „wohl die wichtigste Wahl […], nicht nur für Türkiye, sondern für die ganze Welt“. Dabei stehe das Bündnis hinter Erdoğan für Unabhängigkeit, während die Opposition das Land „zurück in die Klauen des Westens“ führen werde.

Was würde sich unter Kılıçdaroğlu außenpolitisch ändern?

Eine andere Ansicht vertritt die Plattform „German Foreign Policy“. In einer Analyse heißt es dort, von einer Regierung unter Kılıçdaroğlu seien lediglich graduelle Änderungen der Politik gegenüber dem Westen zu erwarten. Diese beträfen vor allem den Stil.

Die Türkei werde sich auch im Fall eines Regierungswechsels nicht an den westlichen Sanktionen gegen Russland beteiligen, heißt es dort weiter. Ankara werde die Vermittlerposition bezüglich der ukrainischen Getreidelieferungen aufrechterhalten und weiter auf eine Energiepartnerschaft mit Russland setzen. Offen sei lediglich, ob Kılıçdaroğlu an der Nutzung des russischen Raketenabwehrsystems S-400 festhalten oder es zugunsten der F-35-Kampfjets preisgeben würde.

Kılıçdaroğlu wäre allerdings eher als Erdoğan bereit, mit dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zu verhandeln. Im äußersten Fall könnte das in einen Abzug der türkischen Truppen aus Nordsyrien gegen entsprechende Sicherheitsgarantien münden. Der CHP-Chef hatte im Wahlkampf auch die Rückführung syrischer Flüchtlinge aus der Türkei gefordert.

Strategie „Erdoğan muss weg“ könnte nicht ausreichen

Der Unternehmensberater Avni Bilgin aus Essen ist bezüglich der Erfolgschancen der Opposition ebenfalls skeptisch. Er ist zwar überzeugt, dass die AKP „politisch ausgedient“ habe und das Land „insbesondere wirtschafts- und gesellschaftspolitisch schlecht regiert“. Dennoch würde auch er der Opposition nicht die Stimme geben. Auf Facebook schreibt er:

Bei einigen kann die vermarktete Allianzstrategie ‚Erdoğan muss weg, dann sehen wir weiter‘ Anklang finden. Aber den meisten Menschen ist es NICHT EGAL, ‚wer‘ und ‚was‘ nach Erdoğan kommt. Sie wollen Sicherheit, Stabilität und eine bessere Zukunft in Aussicht gestellt haben und keinen Etikettenschwindel. Die Opposition hat es nicht geschafft, neue Wählerstimmen zu generieren, ihre vermeintliche Stärke resultiert aktuell aus der ‚Anti-Erdogan-Allianz‘ mit sieben Parteien.“



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