Volkswirtschaftler: Ist die gesetzliche Rentenversicherung ein Kettenbrief?
Das System der Deutschen Rentenversicherung ist nach dem sogenannten Umlageverfahren gestaltet. Das bedeutet, dass die aktuell wirtschaftlich Tätigen in das System einzahlen und von diesen Einzahlungen die Rentner ihre Zuwendungen erhalten.
Dieses Prinzip funktioniert so lange gut, wie es genügend gut verdienende Einzahler gibt und die Zahl der Leistungsempfänger demgegenüber klein bleibt. Dann kann die Rentenkasse sogar einen Überschuss erwirtschaften. Aber das Verhältnis dreht sich um, wenn die Zahl der Inaktiven gegenüber den Aktiven wächst. Dann kommt es zu einem Defizit. Dies wird in Zukunft immer mehr der Fall sein.
Finanzierungslücke
Moderne Systeme der sozialen Sicherung sind nach dem Umlageverfahren konzipiert. Sie regeln den Fluss der Finanzmittel zwischen dem sogenannten „aktiven“ Teil der Bevölkerung und dem „inaktiven“ Teil: zwischen den Arbeitstätigen und den nicht aktiven Jugendlichen und Alten, den Gesunden und den Kranken und als soziale Hilfe und Umverteilung zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen. Es ist offensichtlich, dass sich ein solches System auf eine Krise zubewegen muss, wenn sich das Verhältnis zwischen den aktiven und inaktiven Teilen zuungunsten der Aktiven verschiebt.
Jede Volkswirtschaft ist nur bis zu einem gewissen Umfang imstande, den nicht aktiv am Erwerbsleben beteiligten Bevölkerungsanteil mitzutragen – gleichgültig, ob und wie viele von diesem Anteil aus Rentnern, Arbeitslosen und den anderen Beziehern von Transferleistungen bestehen.
In den kommenden Jahren und Jahrzehnten wird es aus demografischen Gründen zu einer starken Ausweitung der Zahl der Rentenempfänger kommen. Gleichzeitig zeichnet sich die Schrumpfung des arbeitenden Bevölkerungsteiles ab. Die Rentenausgaben werden stärker ansteigen als die Einnahmen. Schon jetzt ist die gesetzliche Rentenversicherung in einem finanziellen Ungleichgewicht. Die Ausgaben in Höhe von 341,6 Milliarden Euro im Jahr 2022 konnten nur mittels eines Staatszuschusses von 78,8 Milliarden Euro gedeckt werden. In Zukunft wird die Finanzlücke weiter zunehmen. Einem Anstieg der Beiträge sind aber Grenzen gesetzt.
Derzeit beträgt der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung 18,6 Prozent des Bruttoeinkommens. Zusammen mit den Beiträgen zur Krankenversicherung (14,6 Prozent), der Arbeitslosenversicherung (3,05 Prozent) und der Pflegeversicherung (2,4 Prozent) umfassen die gesamten Sozialabgaben 2022 bereits 38,65 Prozent. Nimmt man die Lohnsteuer hinzu, so steigt die Belastung der Arbeitnehmer je nach Familienstand und Gehaltshöhe auf über 45 Prozent.
Sowohl wegen der demografischen Entwicklung als auch angesichts der schwachen konjunkturellen Entwicklung wird es zu steigenden Belastungen kommen. Es sind die wirtschaftlich Aktiven, die diese Lasten tragen müssen. Diese Altersgruppen, die derzeit und in den kommenden Jahrzehnten arbeitstätig sein werden, werden diese Beiträge aufbringen müssen, obwohl sie ihrerseits immer geringere Leistungen zu erwarten haben.
Ende des Kettenbriefs
Kettenbriefe und Schneeballsysteme sind in den meisten Ländern der Welt verboten. Aber genau nach diesem Schema funktioniert die gesetzliche Rentenversicherung. Es handelt sich um ein Geschäftsmodell, das zu seinem Funktionieren eine ständig wachsende Anzahl von Teilnehmern benötigt. Die frühen Mitspieler erhalten ihre Auszahlung durch den Zugang neuer Teilnehmer. Das Spiel kann so lange andauern, wie genügend neue Einzahler gefunden werden. Schwindet deren Zahl und fehlt es an ausreichend neuen Einzahlungen, bricht das Schema zusammen. In der Finanzbranche wird eine solche Methode „Ponzi scheme“ genannt.
Die jetzt aktive Generation ist der große Verlierer dieses Systems. Während frühere Generationen Nettoempfänger waren, sind die heute Aktiven Nettozahler. Sie stehen am Ende des Kettenbriefes. Sie werden vom Staat gezwungen, in eine Kasse einzuzahlen, die heute schon einen Fehlbetrag aufweist. Wenn dieser durch den Staatsanteil gedeckt wird, heißt das aber nichts anderes, als dass auch dieser Anteil von den heute wirtschaftlich Aktiven aufgebracht werden muss – sei es durch Besteuerung oder über den Umweg höherer Staatsverschuldung. So oder so sind die derzeit Aktiven die Betrogenen.
Das System der sozialen Sicherung ist weder sozial noch sicher. Es ist nicht sozial, weil das Transfersystem genau die Abhängigkeit hervorruft, die es heilen soll, und es ist nicht sicher, weil das umfassende moderne Wohlfahrtssystem den wirtschaftlichen Wohlstand untergräbt. Als Zwangssystem von Transfers von den Aktiven zu den Nichterwerbstätigen, vom Sparer zum Verbraucher und vom Produzenten zum Staat haben die Systeme der sozialen Sicherheit eine inhärente Tendenz, die private Kapitalbildung zu unterminieren und die Arbeitsteilung zu hemmen.
Selbstblockade
Mit der Sozialversicherung zwingt die Regierung den Bürgern einen anonymen „Vertrag“ auf, der sich bei der Rentenversicherung auf die zukünftigen Generationen erstreckt. Der Staat drängt sich zwangsweise als Familienoberhaupt auf und zerstört damit die natürlichen Bindungen, die zwischen den Familiengenerationen bestehen. Auf diese Weise trägt die staatliche Rentenversicherung zur Erosion der Familie bei.
Darin liegt der grundlegende logische Widerspruch des modernen Wohlfahrtsstaates: Der Wohlfahrtsstaat enthält die Tendenz, seine eigene wirtschaftliche Basis zu untergraben. Der Ausweg ist nicht die Reform des Wohlfahrtsstaates, sondern seine Demontage. Der Wohlfahrtsstaat in seiner bisherigen Form lässt sich auf Dauer nicht beibehalten. Während die Belastung der Aktiven steigt, nimmt die Altersarmut zu.
Nicht die Geldanlage wirft die Erträge ab, sondern man erzielt nur dann Erträge, wenn gewinntragend gewirtschaftet wird. Dies aber erfordert eine ständige Anpassung und Verbesserung der Kapitalstruktur der Wirtschaft, um die Produktivität zu erhalten und bestmöglich zu steigern. Die vor uns liegende Ausweitung der Finanzierungslücke der Rentenversicherung kann durch Produktivitätsfortschritte gemildert werden. Dann wäre trotz Überalterung der Gesellschaft noch ein guter Lebensstandard möglich.
Die Frage ist jedoch: Handelt die Regierung in einer Weise, die es zulässt, dass die Produktivität steigt? Tatsächlich geht hier nur allzu oft Populismus vor Vernunft. Die Politik denkt von Wahlzyklus zu Wahlzyklus. Staatsausgaben werden nicht nach ihrer Gesamtwirkung beurteilt, sondern danach, ob sie auf kurze Sicht positive Stimmung in der Wählerschaft hervorrufen. Das ist die wahre Tragik der staatlichen Rentenpolitik.
Die Politik fordert mehr private Vorsorge. Je höher die bestehenden Sozialbeiträge jedoch sind, desto schwieriger wird aber die private Altersvorsorge. Die hohe Belastung mit Sozialabgaben lässt es für die meisten Arbeitnehmer kaum noch zu, ausreichend selbst Kapitalerträge abwerfendes Eigentum zu erwerben.
In seiner düsteren Konsequenz läuft es darauf hinaus, dass es für die große Mehrheit der zukünftigen Rentnerinnen und Rentner zunehmend schwieriger werden wird, ihren Lebensstandard zu halten. Die heute am Erwerbsleben aktiv Beteiligten müssen sich darauf einstellen, dass sie eine länger dauernde Lebenszeit erwerbstätig bleiben müssen und mit einem niedrigeren Rentenniveau zu rechnen haben. Allerdings kann eine erhöhte Lebensarbeitszeit nur dann ein Ausweg sein, wenn ausreichend produktive Erwerbschancen entstehen. Hier liegt das zentrale Problem der modernen Sozialpolitik: Der Faktor Arbeit ist durch Abgabenbelastungen stark verteuert – der Sozialstaat manövriert sich in die Selbstblockade.
Fazit
Je mehr der Anteil von Menschen im Rentenalter zunimmt, desto wichtiger wird es, alles zu meiden und nach Möglichkeit abzustellen, was zur Erwerbslosigkeit beiträgt. Immer mehr Reglementierungen bremsen den Produktivitätsanstieg.
Um die Rentenkrise zu meistern, muss der Anteil des beruflich aktiven Bevölkerungsteils so groß wie möglich gehalten werden und dessen Einkommensniveau möglichst hoch sein. Dies erfordert wirtschaftliche Produktivität. Seit Jahrzehnten erleben wir hingegen ein unergiebiges Hin und Her unzähliger Scheinreformen. Sozialpolitik operiert als Schiebebahnhof. Die wesentlichen Gesichtspunkte bleiben unbeachtet.
Gerade in den vergangenen Jahren – vor dem nun bevorstehenden steilen Anstieg der Gesamtbelastung – hat die Wirtschafts- und Sozialpolitik versagt. Die bevorstehende Herausforderung durch die Altenlast wurde ignoriert. Dieses Versäumnis wird in den nächsten Jahren mit aller Wucht sichtbar werden.
Über den Autor:
Dr. Antony P. Mueller ist habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg und Professor für Volkswirtschaftslehre an der brasilianischen Bundesuniversität UFS (www.ufs.br). Vor Kurzem erschien sein Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie: Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik“.
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