Schutzwesten aus Seide – eine innovative Idee, die Jahrhunderte alt ist
Verschiedene Teams chinesischer und amerikanischer Wissenschaftler entwickeln Berichten zufolge Körperpanzer aus der Seide gentechnisch veränderter Seidenraupen. Dafür haben die Forscher die Gene von Seidenraupen so verändert, dass sie Spinnenseide anstelle ihrer eigenen Seide produzieren.
Die Eigenschaften von Spinnenseide zu nutzen, ist ein lang gehegter Wunsch, denn das Material ist so stark wie Stahl, aber auch sehr elastisch. Jene Idee, Seide zur Herstellung kugelsicherer Westen zu verwenden, ist jedoch nicht neu. Vielmehr reicht sie Jahrhunderte zurück.
Die Erfindung der kugelsicheren Weste aus Seide wird häufig dem amerikanischen Arzt George Emory Goodfellow (1855–1910) zugeschrieben. Dieser stellte bereits vor über 100 Jahren fest, dass Seide für Kugeln undurchdringlich ist.
Tatsächlich wurde die Idee wiederum mehr als zwei Jahrhunderte früher von dem deutschen Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) vorgeschlagen.
Leibniz, geboren am 1. Juli in Leipzig, ist vor allem für seine mathematischen Erkenntnisse der Infinitesimalrechnung und der binären Arithmetik bekannt. – Die Leibniz-Kekse stammen nicht von ihm, sind aber nach ihm benannt. – Doch beginnen wir mit der bekannteren Geschichte aus Amerika.
Mordopfer überrascht mit Seide
Als praktizierender Arzt in der amerikanischen Grenzstadt Tombstone, Arizona, sah und behandelte Dr. Goodfellow viele Patienten mit Schussverletzungen. Bei einigen von ihm beobachteten Fällen erkannte er „die bemerkenswerte Zähigkeit der Seidenfaser und ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber der Durchschlagskraft einer Kugel“.
Am 3. April 1882 berichtete eine Lokalzeitung in ihrem Artikel „Silk as Bullet Proof“ (zu Deutsch: Seide als Kugelfang) über einen überraschenden Fall von Dr. Goodfellow. So entdeckte der Arzt bei dem Opfer namens Billy Grounds zur Überraschung zwei Schrotkugeln in den Falten des Seidentaschentuchs. Andere Kugeln fanden dagegen ihren Weg durch Hut und Kopf des Erschossenen. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass „eine seidene Rüstung die nächste Erfindung sein könnte“.
Fünf Jahre später veröffentlichte Dr. Goodfellow weitere Beobachtungen in der Zeitschrift „The Southern California Practioneer“. Darin berichtete er von zwei weiteren Fällen, in denen sich das Seidentaschentuch eines Schussopfers als kugelsicher erwies. Wie der Arzt mitteilte, blieb das Taschentuch unversehrt, bohrte sich aber in den Körper des Opfers, sodass es aussah, als sei es absichtlich in die Wunde gestopft worden, um die Blutung zu stoppen.
Auf der Grundlage von Goodfellows Erkenntnissen erfand der katholische Priester Casimir Zeglen (1869–1927) später eine kugelsichere Seidenweste. Das Potenzial des edlen Stoffes als Schutzpanzer war jedoch schon mehr als zwei Jahrhunderte zuvor von Leibniz erkannt worden.
Leibniz: Ein wachsamer Beobachter der Natur
Obwohl er vor allem als Mathematiker und Philosoph bekannt ist, war Leibniz ein Universalgenie, das innovative Beiträge in zahlreichen Disziplinen leistete. Er schrieb Hunderte Manuskriptseiten zu militärischen Themen – veröffentlichte aber keine davon. Die meisten dieser Texte sind bis heute unveröffentlicht.
In einer dieser wenig bekannten Schriften mit dem Titel „Plan für ein militärisches Herstellungsverfahren“ suchte Leibniz nach einem geeigneten Material für die Herstellung eines leichten, flexiblen und kugelsicheren Gewebes. Er erwog kurzzeitig Metalldrähte, geschichtete Metallbleche und geschichtete „Goldschlägerhaut“, ein Material aus Rinderdarm. Den größten Teil seiner Aufmerksamkeit widmete er jedoch der Seide.
Während Goodfellow deren Undurchdringlichkeit direkt beobachtet hatte, hatte Leibniz dies nie getan. Stattdessen hielt er Seide für das vielversprechendste Material für einen kugelsicheren Stoff, weil sie leicht, flexibel und stark ist. „Von allen Stoffen, die wir für Gewebe verwenden und die in großer Menge erhältlich sind, gibt es nichts Festeres als einen Seidenfaden“, schrieb er.
Leibniz stellte fest, dass Seide nie fester war als im Kokon, „wo die Seide noch so gesammelt ist, wie die Natur sie hervorgebracht hat“. Deshalb schlug er vor, ein Gewebe aus ganzen Kokons herzustellen, die mit Leim fest zusammengepresst sind.
Er erkannte, dass ein solches „Tuch“ zwar nicht leicht durchstochen werden konnte, aber wegen der dicht gewebten Seide in den Kokons anfällig für Risse war, wenn ein Kokon auf den nächsten traf. Daraus schloss er, dass eine Kugel kein Loch in den Stoff reißen würde, sondern stattdessen den Kokon, den sie traf, aus den umliegenden Kokons herausreißen und in den Körper treiben würde. – Ähnlich wie es Goodfellow zwei Jahrhunderte später beim Seidentaschentuch beobachten sollte.
Schwächen mit Stärken ausgleichen
Leibniz’ Lösung für das Reißproblem bestand darin, stattdessen Lagen von gepressten Seidenraupenkokons übereinanderzuschichten. Er veranschaulichte dies mit einem rudimentären Diagramm und einer Reihe von gitterförmig übereinandergestapelten Kreisen, wobei er zwischen den benachbarten Kreisen einen kleinen Zwischenraum ließ.
Wenn man die Kokons in einer solchen sechseckigen Anordnung schichtet, wird sichergestellt, dass die schwachen Teile einer Schicht durch die starken Teile einer anderen abgedeckt werden. Auf diese Weise würde das Gewebe nicht reißen oder von einer Kugel durchbohrt werden. Das Ergebnis, so Leibniz, wäre ein Gewebe, das fast den ganzen Körper bedecken könnte, vor allem, wenn es in Übergröße hergestellt würde, um dem Träger Bewegungsfreiheit zu geben.
Leibniz hat seinen Vorschlag, kugelsichere Kleidung aus Seide herzustellen, nie verwirklicht. Er war kein Ingenieur und wäre nicht in der Lage gewesen, den Stoff selbst herzustellen. Außerdem hatte er oft Schwierigkeiten, Ingenieure zu finden, die seine Erfindungen ausführen konnten. So entwarf er beispielsweise auch eine Rechenmaschine, die trotz seiner lebenslangen Bemühungen, sie zu bauen, nie zu einem voll funktionsfähigen Prototyp wurde.
Seine Idee für kugelsichere Seidenkleidung kam daher nicht über das Zeichenbrett hinaus. Sein Manuskript wurde zusammen mit Zehntausenden anderen stillschweigend zu den Akten gelegt und war eher dazu bestimmt, spätere Entdeckungen vorwegzunehmen, als sie zu beeinflussen.
Über den Autor:
Lloyd Strickland ist Professor für Philosophie und Geistesgeschichte an der Manchester Metropolitan University, Großbritannien. Seine Hauptforschungsinteressen sind die frühe moderne Philosophie – insbesondere Leibniz – und die Religionsphilosophie. Zu beiden Bereichen hat er zahlreiche Artikel und zwölf Bücher veröffentlicht. Außerdem arbeitete er als freiberuflicher IT-Berater.
Dieser Artikel erschien im Original auf theconversation.com unter dem Titel „Body armour made from silk is being developed – but this apparently cutting-edge idea is centuries old“. (Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Redaktionelle Bearbeitung kms)
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