„Offen für Migration“ und „Kein Abbau des Sozialstaates“: Scholz kämpft um die Herzen seiner Genossen
Mit Spannung war die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf dem Parteitag seiner Partei erwartet worden. In der Ampelkoalition rumort es seit Monaten kräftig. Vor zwei Jahren startete das selbsternannte „Fortschrittsbündnis“. Inzwischen hat man sich so sehr verhakt, dass die Koalition nur noch als Streitkoalition wahrgenommen wird. Das dürfte auch manchem Genossen in der SPD ziemlich nerven.
Wie schwer sich die Partei mit ihrem Kanzler tut, das wurde am Freitag deutlich. Als Scholz am Morgen kurz vor Beginn des Parteitags den Saal betritt, bleibt es still. Kein Genosse erhebt sich, niemand klatscht. An diesem Morgen schleicht Scholz fast in die erste Reihe. Könnte man nicht auf dem Bildschirm sehen, dass der Bundeskanzler da ist – niemand würde es hören. Für seine Rede am Samstagmorgen sicherlich kein gutes Omen.
Erst als Malu Dreyer, die Sitzungspräsidentin, in ihrer Begrüßung aufzählt, was die SPD seit 2019 aus ihrer Sicht alles erreicht hat, erinnert sie sich plötzlich an den Kanzler in der ersten Reihe. „Wir stellen den vierten sozialdemokratischen Bundeskanzler. Lieber Olaf!“, sagt sie. Scholz lächelt, aber die Genossen applaudieren nicht frenetisch.
Nach zuletzt desaströsen Umfragen, einem gescheiterten Haushalt und anhaltendem Ampelkrach hoffte mancher SPD-Genosse am Samstagmorgen dann vielleicht doch darauf, eine selbstbewusst-sozialdemokratische Inspiration vom Kanzler zu erhalten. Wird der Kanzler seine Partei noch einmal mitreißen können? Das war die Frage, die heute Vormittag bei den Delegierten in Berlin im Raum stand.
„Ich bin einer von euch“
Olaf Scholz möchte eine Botschaft an diesem Tag aussenden: Ich bin einer von euch! Der Kanzler möchte das Herz seiner Partei gewinnen. Daher erinnert er erst einmal an die Situation zwei Jahre vor der letzten Bundestagswahl. Niemand hätte der SPD damals ernsthaft zugetraut, ins Bundeskanzleramt einziehen zu können. „Am Parteitag zwei Jahre vor der Wahl hat uns das niemand zugetraut, das war ein riesiger Erfolg – danke dafür“, so Scholz. Der Erfolg sei nur gelungen, weil die Partei zusammengehalten habe. Und dann wird er aktueller: „Manche haben damit gerechnet, dass jetzt auf diesem Parteitag damit Schluss ist – aber dann haben die, die so gerne über uns kritisch berichten, festgestellt, dass diese Partei weiterhin gut zusammenarbeiten wird.“
Er kommt auf die zahlreichen Krisen zu sprechen, mit denen seine Regierung in den vergangenen zwei Jahren zu kämpfen hatte. Erst Corona, dann den Russland-Ukraine-Krieg. In seinem Rückblick lobt er dann „die SPD-Kanzler, die so viel für die Verständigung mit Russland beigetragen haben – das hat Putin alles weggeworfen.“
Langer Atem bei Ukraine-Unterstützung
Gleichzeitig schwört er die Delegierten auf einen langen Atem bei der Unterstützung für die Ukraine ein. „Dieser Krieg ist wahrscheinlich so schnell nicht vorbei“, so Scholz. Daher sei wichtig, „dass wir lange in der Lage sind, das zu tun, was notwendig ist“, nämlich „die Ukraine weiter in ihrem Verteidigungskampf zu unterstützen“.
Deutschland, so der Kanzler, müsse sich darauf einstellen, in Zukunft noch mehr leisten zu müssen, „wenn andere schwächeln“. Hierbei dürfte Scholz auf die unklare politische Lage in den USA vor der Präsidentschaftswahl angespielt haben. Gerade erst hat der US-Senat die Ukraine-Hilfen blockiert.
Scholz bekannte sich in seiner Rede ausdrücklich zu weiterer militärischer Unterstützung für die Ukraine. Russlands Präsident Wladimir Putin „darf nicht darauf rechnen, dass wir nachlassen“, hob er hervor.
Bei Migration wird Kanzler sehr vage
Sehr viel unverbindlicher wird Scholz dann aber, wenn es um Flüchtlinge und Asyl geht. Hier lässt es der Kanzler an klaren Aussagen fehlen. In acht Nebensätzen sagt er reichlich verklausuliert, dass er das Asylrecht verteidigen möchte. „Wir werden es nicht aufkündigen“, so Scholz. Dann versteigt er sich in der Version von Einbürgerungsfeiern, in denen Muslime die deutsche Nationalhymne mit ihren Familien singen. So stelle sich der Kanzler Integration vor, betont er. Wie er dahin kommen möchte und wie er die vielen momentanen Integrationshindernisse umschiffen will? Diese Antwort bleibt der Kanzler an diesem Tag schuldig.
In der Frage der illegalen Migration gibt er zu, dass hier Reformen angeschoben werden müssen. „Aber wir wollen, dass dieses Land offen für Migration ist, für Menschen, die hier arbeiten wollen und zum Wohlstand in Deutschland beitragen“, so Scholz.
Alles wirkt an dieser Stelle ein wenig gestelzt und staccatoartig. Scholz zeichnet ein Bild von Integration und Migration, das ein Großteil der Bevölkerung teilen würde. Nur sieht eben in vielen Bereichen die Realität anders aus.
Gerade erst befragte der „Deutschland-Puls“ von „t-online“ in einer repräsentativen Umfrage Bürgerinnen und Bürger, wo sie im Moment den größten politischen Handlungsbedarf sähen. Das Ergebnis: 44 Prozent der Befragten sehen beim Thema Migration und Integration den größten Handlungsbedarf. Erst danach kommen mit jeweils 13 Prozent die Themen Wirtschaft/Arbeitsplätze und innere Sicherheit.
Kein Abbau des Sozialstaates
Scholz streift auch das momentan aktuellste Thema: den Haushalt. „Das ist eine sehr schwere Aufgabe, gerade wenn man sich mit anderen einigen muss“, sagt Scholz. „Ich will hier die Zuversicht vermitteln, dass uns das gelingen wird in einer Weise, die das Land weiterbringen wird.“ Für ihn sei ganz klar: „Es wird in einer solchen Situation keinen Abbau des Sozialstaates in Deutschland geben.“
Für diese Aussage erhält der Kanzler dann donnernden Applaus – mehr als bei den anderen Punkten zuvor. Er hat den sozialen Nerv seiner Partei getroffen. Nun geht es um den Sozialstaat, Mindestlohn und Bürgergeld. Alles Positionen, die nicht neu sind. In der momentanen Situation sind sie aber eine sozialdemokratische Seelenmassage.
„Wir müssen zusammenhalten, einen klaren Kurs haben. Wenn wir jetzt auch noch das mit dem Haushalt hinkriegen, und dass Deutschland optimistisch in die Zukunft blicken kann, wenn wir sagen können, wir sind für euch da – dann sorgen wir für eine bessere Zukunft“, so die abschließende Botschaft von Bundeskanzler Scholz an seine Partei.
Viel Applaus, ohne Neues gesagt zu haben
An diesem Vormittag, so scheint es, hat der Kanzler die Herzen seiner Partei erreicht. Auch wenn er nicht viel Neues in seiner Rede geboten hat, bekommt er viel Applaus von den Delegierten.
Die Parteivorsitzende Saskia Esken ergreift im Anschluss an die Scholz-Rede das Wort: „Wow, lieber Olaf. Deine Rede hat uns im Herzen angefasst. Jeder im Raum konnte spüren, dass du im Herzen hier zu Hause bist. Wir sind stolz, dass du einer von uns bist.“
Obwohl Scholz die Herzen seiner Partei auf dem Parteitag erreicht zu haben scheint, wird er nun beweisen müssen, dass er nicht nur die Partei, sondern auch das Land durch die bestehenden Herausforderungen führen kann. Die Zukunft wird zeigen, ob er die Kraft hat, Deutschland aus der existenziellen Krise zu führen und konkrete Schritte für Wachstum, Integration und Haushaltsstabilität zu unternehmen.
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