„Jüdische Allgemeine“: Man will Schuldkomplex-Deutsche nicht als Nachbarn in Europa

Nach George W. Bush, Donald Trump, Netanjahu, Kurz oder Orbán hat es nach den Unterhauswahlen in Großbritannien auch Boris Johnson zum obligatorischen Nazi-Vergleich durch deutsche Intellektuelle geschafft. Michael Wuliger fragte nach den Gründen.   
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Deutsche Flagge.Foto: Sean Gallup/Getty Images
Von 19. Dezember 2019

Dass Linke sich nach für sie unvorteilhaft verlaufenen Wahlen häufig als schlechte Verlierer zeigen, ist kein spezifisch deutsches Phänomen. Wahlweise kann es erfahrungsgemäß die „ungebildete Landbevölkerung“, eine „unterschwellige Misogynie“, ein „rassistisches Ressentiment“ oder, wenn gar nichts mehr weiterhilft, eine russische oder amerikanische Einmischung sein, die man dafür verantwortlich zeichnet, dass die wegweisenden Konzepte der „Fortschrittlichen“ nicht zum Zuge gekommen sind – oder alles zusammen.

In besonders gravierenden Fällen finden als Reaktion auf den Wahlausgang noch Demonstrationen statt, die von mehr oder weniger Friedfertigkeit geprägt sind, oder es wird zu medialen und politischen Tricks gegriffen, um die nichtlinken Wahlsieger zu obstruieren oder zu diskreditieren. In den USA versuchen die Demokraten noch heute, das Wahlergebnis von 2016 ungeschehen zu machen.

„SWC-zertifizierter Antisemit“ liest Briten die Leviten

In Deutschland kommt jedoch noch ein Spezifikum dazu, nämlich der obligatorische Nazivergleich, der deutlich machen soll, dass Menschen, die anders gewählt haben als die politische Linke, die Medien und die Intellektuellen es für angebracht gehalten hätten, nicht nur eine falsche, sondern auch eine moralisch abgrundtief verachtenswerte Entscheidung getroffen hätten. Und dass diese Wähler damit gleichsam schon im Voraus für den bevorstehenden nächsten Weltkrieg oder Genozid verantwortlich wären. Während all jene, die anders als diese Menschen gewählt hätten, sich auf diese Weise jetzt schon den Status als heldenhafte Widerstandskämpfer erworben hätten.

Auch Michael Wuliger von der „Jüdischen Allgemeinen“ ist dieser Sachverhalt nicht verborgen geblieben. In seiner Kolumne über „Deutsche Oberlehrer“ schreibt er über Jakob Augstein und Ulrike Guérot – und wie diese den Briten nach den Unterhauswahlen vom vergangenen Donnerstag (12.12.) die Welt erklären.

Verlegersohn Augstein, der im Laufe seiner bisherigen Journalistenkarriere immerhin schon zweimal die Aufmerksamkeit des Simon Wiesenthal Centers (SWC) erregte und es 2012 auch in die Top 10 der schlimmsten antisemitischen Umtriebe des Jahres geschafft hatte, setzte auf Twitter den Sieg von Boris Johnson und den Konservativen mit dem Siegeszug der Nationalsozialisten gleich.

Der Post des Inhalts „Das Fell für die Trommel/liefern sie selber“ nimmt Bezug auf Bertolt Brechts „Kälbermarsch“, eine Parodie auf das „Horst-Wessel-Lied“. Noch weniger subtil hatte Ulrike Guérot das Ergebnis in einem mittlerweile gelöschten Tweet kommentiert, als sie noch unter dem Eindruck der ersten Prognose schrieb: „So müssen sich die Menschen 1933 gefühlt haben“.

„Dumme und obszöne Gleichsetzungen“

„Das schrieb nicht irgendeine unterbelichtete Twitter-Trulla“, erklärt Wuliger. „Frau Guérot ist promovierte Politikwissenschaftlerin, Professorin an der Donau-Universität im österreichischen Krems und wird oft in Fernseh-Talkshows als Europa-Expertin eingeladen. Sie zählt sozusagen zur intellektuellen Elite.“ Guérot ist zudem die engste Mitstreiterin des Autors Robert Menasse mit Blick auf das Projekt der „Europäischen Republik“, das nach ihrer Auffassung an die Stelle der Nationalstaaten treten soll.

Wuliger setzt voraus, dass es dem verständigen Leser klar ist, warum es insbesondere für die europäischen Juden einen nicht unwesentlichen Unterschied gemacht hätte, wären 1933 in Deutschland politische Kräfte ans Ruder gelangt, die sich programmatisch an den britischen Torys orientiert hätten. Er wirft nur die Frage auf:

Warum versteigen sich dann zwei zumindest formal gebildete Menschen zu derart dummen und, mit Verlaub, obszönen Gleichsetzungen?“

Das vielzitierte „Godwin-Gesetz“ sei ein wohlwollender Ansatz, wonach sich „mit zunehmender Länge einer Online-Diskussion die Wahrscheinlichkeit eines Vergleichs mit den Nazis oder Hitler dem Wert eins“ annähere. Näherliegend sei jedoch ein anderer:

Augstein und Guérot sind Deutsche. Und an nichts leidet dieses Volk mehr als an der Erinnerung an seine Nationalgeschichte von 1933 bis 1945.“

Wenn jeder Hitler wird, ist es keiner mehr

Das Kleinreden der Ereignisse sei eine verbreitete Möglichkeit, damit seelisch fertig zu werden – Wuliger nennt als Beispiel aus jüngerer Zeit die „Vogelschiss“-Rede des AfD-Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland. Eine andere jedoch sei das „Tu-Quoque“ bzw. der „Whataboutismus“, der im Kern dazu führe, dass, sobald jeder irgendwie Hitler oder ein „Nazi“ sei, es im Grunde keiner mehr sei und dass dann die historische Schuld der tatsächlichen Nazis gleich weniger schwer wöge. Wuliger schildert den dahinter liegenden Gedankengang wie folgt:

„Andere Völker sind nicht besser, siehe die Sklaverei in Amerika, die europäische Kolonialgeschichte und, last but not least natürlich, was die Israelis den Palästinensern antun. Und jetzt, schaut mal, die Briten. Wie unsere Großeltern bei Adolf. Da fühlt man sich als Deutscher gleich viel besser.“

In Großbritannien kenne man weder Augstein noch Guérot, resümiert Wuliger. Das sei vielleicht auch besser so:

„Brexit-Wähler könnten sich im Nachhinein sonst nur bestätigt fühlen. Wer will schon in einem gemeinsamen Haus Europa mit solchen Nachbarn leben?“

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