Die neue Zweiklassengesellschaft

Der Ökonom Rainer Fassnacht sieht zwei neue gesellschaftliche Klassen: Diejenigen, die ihr eigenes Einkommen auf dem freien Markt erwirtschaften und diejenigen, die ihr Einkommen von anderen finanziert bekommen.
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Von 3. Juli 2022

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Der Zweiklassengesellschaft kommt im sozialistischen Denken eine wichtige Funktion zu. Eingriffe in das Privateigentum bis hin zur kompletten Enteignung – gern auch als „Vergesellschaftung“ begrifflich verschleiert – erscheinen vor diesem Hintergrund in anderem Licht.

Karl Marx‘ Zweiklassen-Theorie ist widerlegt

Nach Marx stehen sich Arbeiter und Kapitalisten mit ihren jeweiligen Interessen diametral gegenüber. Demnach beuten die Kapitalisten als Eigentümer der Produktionsmittel die Arbeiter aus, weil sie durch den Profit einen Teil der Arbeitsleistung für sich „abzweigen“.

Allerdings beruhen diese Vorstellungen auf dem Denkfehler, dass sich der Wert eines Gutes aus der darin enthaltenen Arbeit ergibt. Tatsächlich ist der Wert jedoch nichts, was dem Gut inhärent ist. Dieser ergibt sich aus der individuellen Bewertung des Gutes oder der Dienstleistung als Mittel zur persönlichen Zielerreichung.

Die zugrunde liegenden Annahmen der marxschen Zweiklassengesellschaft sind überholt, der Begriff in seiner ursprünglichen Verwendung bräuchte daher an sich nicht mehr verwendet werden. Allerdings hat sich der Begriff derart eingebürgert, dass er – wie es scheint – nicht mehr aus den Köpfen herauszubekommen ist.

Wenn ein Verzicht auf den Begriff der Zweiklassengesellschaft unwahrscheinlich ist, obwohl er inzwischen sinnentleert ist, bleibt nur eine Option, diese Sprachverwirrung zu beenden. Es bedarf einer neuen Definition für die Zweiklassengesellschaft.

Auch andere Begriffe haben eine solche inhaltliche Umwidmung erfahren. Beispielsweise wird der Begriff „neoliberal“ heute für Kapitalismus ohne Schranken genutzt, obwohl er ursprünglich genau das Gegenteil bedeutete (die neuen Liberalen/Neoliberalen wollten dem freien Spiel der Marktkräfte einen gewissen „Rahmen setzen“).

Eine zeitgemäße Zweiklassen-Theorie

Wie also könnte eine Neudefinition des Begriffs der Zweiklassengesellschaft aussehen, die nicht im Widerspruch zu historischen Erfahrungen und ökonomischen Erkenntnissen steht? Welches Kriterium könnte das Eigentum an Produktionsmitteln als Merkmal zur Unterscheidung zweier Klassen ersetzen?

Mein hier erstmals vorgestellter Vorschlag lautet: Wird das eigene Einkommen ganz oder teilweise, direkt oder indirekt aus Zwangsabgaben bezahlt beziehungsweise beruht es auf staatlichen Interventionen?

Demnach gibt es Menschen, die ihr eigenes Einkommen in der Wirtschaft in freiwilligen Austauschbeziehungen erarbeiten – hier die Primärklasse genannt. Und es gibt andere Menschen, deren Einkommen aus Zwangsabgaben (wie Steuern, Sozialversicherungs-, Rundfunk- oder Kammerbeiträgen) der ersten Gruppe finanziert werden – hier die Sekundärklasse genannt.

Auch jene Beschäftigten, deren Tätigkeit in der Umsetzung staatlicher Interventionen und bürokratischer Vorgaben besteht, sind der Sekundärklasse zuzurechnen. Beispiele sind Dienstleister, welche die A1- beziehungsweise Entsendebescheinigungen für Firmen ausstellen oder ESG[1]-Kriterien aufgrund von EU-Vorgaben überwachen. Ebenfalls der Sekundärklasse zuzurechnen sind Mitarbeiter in – mit Steuergeld gepäppelten – Medien und NGOs.

Weder die Primär- noch die Sekundärklasse entsprechen einer „Klasse“ im Sinne der alten marxschen Definition. In Abhängigkeit von den konkreten Umständen kann ein Arbeiter entweder der Primär- oder der Sekundärklasse zugehören. Auch ein Unternehmer kann entweder der Primär- oder der Sekundärklasse zugehören – Gleiches gilt für unterschiedliche Berufsgruppen und Tätigkeiten.

Der Arbeiter einer Baufirma, die private Bauprojekte realisiert, und die Lehrerin an einer ausschließlich privat finanzierten Schule gehören zur ersten Gruppe. Der Arbeiter und die Chefin eines Stadtwerks gehören ebenso wie die Lehrerin einer öffentlichen Schule zur zweiten Gruppe.

Die Menschen der Primärklasse werden gezwungen, einen Teil ihres Einkommens durch Steuern und Abgaben oder zwangsweise zu übernehmende Kosten aufgrund staatlicher Interventionen der Sekundärklasse zufließen zu lassen beziehungsweise an diese abzugeben. Die Menschen der Sekundärklasse hätten ohne die Arbeit der ersten Gruppe kein Einkommen beziehungsweise sie müssten jemanden finden, der bereit ist, ihnen für ihre angebotenen Leistungen freiwillig etwas zu bezahlen.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Die Menschen in beiden Gruppen müssen für ihr Einkommen arbeiten – zumindest, solange keiner dafür bezahlt wird, nichts zu tun. Die Menschen der Sekundärklasse zahlen zwar auch Steuern, da jedoch ihr Einkommen aus Steuern stammt, nehmen sie mehr aus dem „Steuertopf“ heraus, als sie wieder zurücklegen, sodass sie per Saldo keine Steuerzahler sind, sondern Steuerkonsumenten. Eine Gesellschaft, die sich nur aus Menschen der Sekundärklasse zusammensetzen würde, wäre nicht überlebensfähig.

Entscheidend: Wird Einkommen mit Zwang erwirtschaftet?

Welcher Klasse – nach der neuen, hier verwendeten Definition – ein Arbeiter oder eine Angestellte angehören oder die Präsidentin eines Forschungsinstituts, die Universitätsprofessorin oder der Vorstandsvorsitzende einer großen Aktiengesellschaft, ist allein von der Antwort auf eine Frage abhängig: Wird das eigene Einkommen ganz oder teilweise, direkt oder indirekt aus Zwangsabgaben bezahlt oder beruht auf staatlichen Interventionen?

Trifft dies zu, gehört das jeweilige Individuum zur Sekundärklasse – jener Gruppe, die ohne die erste Gruppe kein Einkommen hätte. Es handelt sich bildlich gesprochen um Abhängige, und zwar abhängig vom stetigen Zufluss an Steuern, Sozialversicherungs-, Rundfunk- und Kammerbeiträgen, Energieumlagen etc. beziehungsweise abhängig von Zuflüssen aus staatlichen Interventionen.

Diese Abhängigkeit wird in den neuen Klassenbegriffen Primär- und Sekundärklasse deutlich. Das Einkommen der Primärklasse schafft die Basis und ist grundlegend für die daraus geschöpften Einkommen der Sekundärklasse.

Heroinabhängige fühlen sich oft wie gezwungen, sich ihren „Stoff“ illegal zu beschaffen. Von Zwangsabgaben und staatlichen Interventionen Abhängige der Sekundärklasse haben demgegenüber den Vorteil, den Zustrom – rechtspositivistisch betrachtet – völlig „legal“ und nahezu beliebig gestalten zu können – zumindest jene mit Einfluss und Macht. Die Menschen, welche in der Legislative, der Exekutive und der Judikative tätig sind, gehören zur Sekundärklasse – also zu den im vorbenannten Sinne verstandenen Abhängigen.

Einkommen der Sekundärklasse werden einseitig bestimmt

Diese „Abhängigen“ der Sekundärklasse haben in einigen Funktionen die Möglichkeit, einerseits jene Regeln zu gestalten, welche die Primärklasse zur Finanzierung zwingt, und andererseits (zumindest teilweise) auch direkt Einfluss auf die Höhe des eigenen Einkommens zu nehmen. Ein Beispiel hierfür sind die Regelungen für Einkommen und Versorgung von Abgeordneten, welche von diesen selbst beschlossen werden.

Eine Angestellte, welche aus der – nicht mit der Umsetzung staatlicher Interventionen befassten – Privatwirtschaft in die Politik wechselt, wechselt damit ebenso von der Primär- in die Sekundärklasse, wie ein Arbeiter der Privatwirtschaft, der in die beitrags- und steuerfinanzierte staatliche Rente wechselt.

Es bleibt nicht ohne Folgen, dass sich die in diesem Sinne „Abhängigen“ der Sekundärklasse ihren „Stoff“ im vorbenannten Sinne legal besorgen können. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges ist das Volumen diverser Zwangsabgaben wie Steuern, Sozialabgaben und Rundfunkbeiträge sowie der Umfang bürokratischer Auflagen deutlich gestiegen. Entsprechend gering ist der Anteil des Einkommens, welcher dem Einzelnen nach Abzug von direkten und indirekten Steuern, Beiträgen zur Sozialversicherung und Zahlung weiterer Zwangsabgaben verbleibt. Und entsprechend kleiner geworden sind auch die – von der Politik noch unbeeinflussten – Räume der Freiheit.

Die gesellschaftliche Dynamik der Zweiklassengesellschaft

Die Zahl der Menschen in der Sekundärklasse hat (ebenso wie die Steuer- und Abgabenlast) eine bemerkenswerte Größenordnung erreicht. Dazu eine grobe Einschätzung der Situation in Deutschland basierend auf Zahlen aus den Jahren 2020 bis 2022:

Es gibt 1,72 Millionen Beamte und Richter und 4,97 Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Außerdem gibt es rund 1,74 Millionen Pensionäre. Die gesetzliche Rentenversicherung zahlte über 18 Millionen Altersrenten. Über 3,5 Millionen Menschen bezogen Arbeitslosengeld II (Hartz IV).

Dabei sind bei dieser groben Einschätzung die Zahl der Dienstleister zur Umsetzung politischer Interventionen beziehungsweise bürokratischer Auflagen, die Mitarbeiter der Parteien und parteinahen Stiftungen sowie Medien, NGOs und sonstige Interessengruppen, die ganz oder teilweise, direkt oder indirekt aus Steuermitteln finanziert oder subventioniert werden, noch nicht berücksichtigt.

Setzt man diese Zahlen in Relation zu den aktuell etwa 45 Millionen Erwerbstätigen (Primär- und Sekundärklasse) oder den 34 Millionen Sozialversicherungspflichtigen in Deutschland, wird deutlich, welche Verhältnisse aus den geschilderten Abhängigkeiten und Zusammenhängen resultieren. Auch die Zunahme der Steuer- und Abgabenlast sowie bürokratischer Auflagen werden verständlich.

Das Verhältnis zwischen den beiden Klassen verschiebt sich immer weiter zu Lasten der Primärklasse. Allein der Bund schuf im vergangenen Jahr 2.500 zusätzliche Stellen. Es kommt hinzu, dass auch die Alterung der Gesellschaft zu weiteren Belastungen der Primärklasse führt.

So schafft diese neue Definition der Zweiklassengesellschaft erhellende Einblicke in die gesellschaftliche Dynamik und ermöglicht es, einen eingebürgerten Begriff weiterzuverwenden, der seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat.

Rainer Fassnacht ist Diplom-Ökonom und schreibt regelmäßig für den Blog des Ludwig von Mises Institut Deutschland (www.misesde.org), wo dieser Artikel zuerst erschien. Außerdem ist er Autor des Buchs „Unglaubliche Welt: Etatismus und individuelle Freiheit im Dialog„.

 

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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