Wasserstoff aus dem Ausland: Droht Deutschlands Energiewende zu scheitern?
Wie viel Wasserstoff darf’s denn sein, Deutschland? Diese Frage stellt sich nicht erst seit der Entscheidung, Wasserstoffkraftwerke zur Sicherstellung einer „grünen“ Stromversorgung heranzuziehen. Eine Antwort steht indes bislang aus. Und nicht nur der Gesamtbedarf ist unklar, ebenso fehlen Aussagen bezüglich wie viel Wasserstoff im eigenen Land erzeugt werden soll und wie viel Wasserstoff zu importieren ist.
Fakt ist, Wasserstoff und dessen Derivate Ammoniak, Methanol und so weiter müssen „in großem Umfang“ und für zahlreiche Zwecke verfügbar gemacht werden. Sei es zur Herstellung von „grünem“ Eisen oder „grüner“ Treibstoffe für den Schiffs-, Flug- und Schwerlastverkehr, zum Betrieb besagter Wasserstoffkraftwerke oder zum Zweck der Versorgung mit Fern- und Prozesswärme.
Selbstverständlich soll es sich dabei um „grünen Wasserstoff“ handeln, der mithilfe von wind-, sonnen- oder wasserkraftgespeister Elektrolyseuren produziert wird. Dass dieser Überschussstrom derzeit nicht existiert, erscheint unterzugehen. So lässt ein Blick auf die Zahlen – sofern verfügbar – dieses Vorhaben und seinen zeitlichen Rahmen fraglich erscheinen.
Wasserstoff ist beschlossene Sache
Am 24. Juli 2024 teilt das Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) mit: „Das Bundeskabinett hat heute die Importstrategie für Wasserstoff und Wasserstoffderivate beschlossen.“ Weiterhin heiß es:
Die Importstrategie beschreibt einen klaren und verlässlichen Rahmen für die dringend benötigten Importe von Wasserstoff und Wasserstoffderivaten nach Deutschland. Sie ist […] ein wesentlicher Baustein der deutschen Wasserstoffpolitik und ergänzt das Engagement der Bundesregierung zum heimischen Marktaufbau. Die Importstrategie ergänzt die Nationale Wasserstoffstrategie.“
Der Bundeswirtschaftsminister konkretisiert: „Ein Großteil des deutschen Wasserstoffbedarfs wird mittel- bis langfristig durch Importe aus dem Ausland gedeckt werden müssen. Die Importstrategie bildet dafür den Rahmen.“ Zugleich sende sie „ein klares Signal an unsere Partner im Ausland.“ Was das bedeutet, erläuterte Habeck ebenfalls:
Deutschland erwartet im Inland eine große und stabile Nachfrage nach Wasserstoff und Derivaten und ist ein verlässlicher Partner und Zielmarkt für Wasserstoffprodukte. Damit schafft die Importstrategie Investitionssicherheit für die Wasserstoffproduktion in Partnerländern, den Aufbau notwendiger Importinfrastruktur und für die deutsche Industrie als Abnehmer.“
Diese Aussage ist, ohne dass man ihr das sofort ansieht, bemerkenswert. Bereits bei rein qualitativer Betrachtung bescheinigt sie eine umfassende Abhängigkeit Deutschlands von ausländischem Wasserstoff und somit eine praktisch nicht vorhandene Wasserstoff-Selbstversorgung aus Deutschlands „Erneuerbaren“.
Man könnte es auch anders formulieren. Dem Ausland wird kapitulativ signalisiert, dass Deutschland ein investitionssicheres Zielland für dessen umfangreichen Wasserstofflieferungen sein werde. Somit hängt der Erfolg der Energiewende maßgeblich vom Ausland ab. Noch im Mai 2015 hingegen titelte National Geographic: „Energiewende – Vorbild Deutschland“. Eine Aktualisierung könnte lauten: Deutschland, Vorbild für eine Welt, ohne deren massive Unterstützung die Energiewende gar nicht umsetzbar ist.
Details weiterhin unklar
Was heißt das in Zahlen? Im Jahr 2030 soll der nationale Wasserstoffbedarf laut Ministerium bei 95 bis 130 TWh pro Jahr liegen; 1 TWh, eine Terawattstunde, entspricht in etwa dem jährlichen Strombedarf von 250.000 vierköpfigen Familien. Davon sollen 45 bis 90 TWh/Jahr aus dem Ausland kommen. Aus weiteren Zahlen lässt sich ermitteln, dass etwa 40 bis 50 TWh/Jahr Wasserstoff aus „grün“ gespeisten heimischen Elektrolyseuren mit einer Leistung von „mindestens“ 10 Gigawatt stammen sollen. Das entspräche einem Importanteil zwischen rund 50 und 70 Prozent.
Im Jahr 2045 läge Deutschlands jährlicher Bedarf an Wasserstoff insgesamt sogar bei 360 bis 500 TWh, zuzüglich 200 TWh an Derivaten wie Ammoniak und E-Fuels. Wie viel dabei aus heimischer Produktion stammen könnte, bleibt offen. Eine entsprechende Anfrage der Epoch Times an das BMWK blieb unbeantwortet, sodass auch die Herkunftsländer des Importwasserstoffs nicht eingegrenzt werden können.
Eine Antwort lieferte ersatzweise die künstliche Intelligenz ChatGPT. Demnach gibt es unverbindliche Absichtsbekundungen aus 14 Ländern, ab dem Jahr 2028 bis zu 441 TWh/Jahr Wasserstoff bereitzustellen. 84,3 Prozent dessen (371,3 TWh/Jahr) lassen sich aufgrund der großen Entfernungen nur über den Seeweg transportieren. 69,3 TWh/Jahr (15,7 Prozent) ließen sich prinzipiell auch mittels Pipelines über das innereuropäische Ausland nach Deutschland befördern.
Laut ChatGPT könnten aus europäischen Ländern außerdem weitere 160 bis 260 TWh/Jahr abrufbar sein. Dem entgegen spricht ein Bericht des Europäische Rechnungshofs vom 17. Juni 2024. Unter dem Titel „Erneuerbarer Wasserstoff: EU-Prüfer fordern Realitätscheck“ heißt es dort: „Die EU [werde] ihre für 2030 gesetzten Ziele für Erzeugung und Import von erneuerbarem Wasserstoff voraussichtlich nicht erreichen.“
Wasserstoff 2030: Keine Elektrolyse in Deutschland?
Diese Zahlen halten einer genaueren Betrachtung kaum stand, und das betrifft keineswegs nur die teils schwer überprüfbaren Angaben von ChatGPT.
Die Frage, wie viel mehr Elektrolyseleistung als die vom BMWK angegebenen „mindestens 10 GW“ tatsächlich benötigt werden, beantwortet eine kurze Rechnung: Die Bundesnetzagentur hat in ihrem im Jahr 2022 genehmigten Szenariorahmen mitgeteilt, dass bei in Deutschland betriebenen Elektrolyseuren von 3.000 Volllaststunden auszugehen sei. Volllaststunden entsprechen im Prinzip der aktiven Betriebsdauer einer Anlage während eines Jahres, wenn sie während dieser Dauer leistungsmäßig voll ausgenutzt würden. Zweimal 30 Minuten „Vollgas“ ergeben eine Volllaststunde, viermal 30 Minuten mit halber Geschwindigkeit eine weitere.
Hinzu kommt der Wirkungsgrad. Dieser beträgt für Elektrolyseure etwa 65 Prozent. Die gewünschte Erzeugung von 40 bis 50 TWh/Jahr Wasserstoff erfordert somit Strom in der Größenordnung von 62 bis 77 TWh/Jahr. Um dies in 3.000 Stunden verarbeiten zu können, erfordert dies eine Nennleistung der Elektrolyseure von 21 bis 26 GW. Das ist mehr als doppelt so viel wie die „mindestens 10 GW“ des Ministeriums. Eine auffällige Diskrepanz, die zu klären wäre.
Ebenfalls Klärungsbedarf ergibt sich aus einer weiteren Studie der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2023. Darin steht:
Germany, Belgium, the Netherlands and others have minimal or no hydrogen production.“ – Deutschland, Belgien, die Niederlande und andere haben minimale oder keine Wasserstoffproduktion.
Heißt, in Deutschland solle besser kein eigener Wasserstoff elektrolysiert werden. Begründet wird dies damit, dass Deutschland seinen Wasserstoff aus dem EU-Ausland günstiger importieren als selbst herstellen könne. Die Frage an das Ministerium, wie dieser Widerspruch aufzulösen ist, blieb wiederum unbeantwortet.
Wasserstoff 2045: Ein bisschen mehr oder weniger
Für das Jahr 2045 beziffert das BMWK den Bedarf an Wasserstoff und seinen Derivaten für Deutschland mit 560 bis 700 TWh/Jahr. Im Jahr 2022 gingen die Bundesnetzagentur und die von ihr zitierten „Big 5“ – allesamt „umfassende Analysen renommierter Institutionen“ – von einem Bedarf von 250 bis 650 TWh/Jahr aus. Das Westfälische Energieinstitut, Gelsenkirchen, nennt in seinem 2024 erschienenen 2. Positionspapier einen Wert von 860 TWh/Jahr: 700 TWh/Jahr Import, sowie 160 TWh/Jahr aus unwirtschaftlicher, von der Bundesnetzagentur aber so angegebener 80-GW-Elektrolyse.
Die Deutsche Industrie- und Handelskammer Berlin ermittelte ihrerseits für das Jahr 2050 einen Wasserstoffbedarf von jährlich 45 Millionen Tonnen. Das entspricht 1.458 TWh/Jahr. Insgesamt beträgt die Spannbreite des deutschen Wasserstoffbedarfs 2045 somit 250 bis knapp 1.500 TWh/Jahr.
Bereits dieses Zahlen-Potpourri weist auf die diffuse Informationslage in Sachen Wasserstoff hin. Dieser Diffusität ist auch das BMWK erlegen. So räumt das Ministerium in seinem Bericht „Importstrategie für Wasserstoff und Wasserstoffderivate“ vom Juli dieses Jahres ein:
Je nach Marktentwicklung kann der tatsächliche Bedarf auch höher oder niedriger als in den oben angegebenen Spannbreiten ausfallen. Ein robustes Ergebnis über alle Szenarien und Prognosen hinweg ist jedoch ein massiv ansteigender Bedarf an Wasserstoff und seinen Derivaten und damit einhergehend ein sehr hoher Importbedarf.“
Verdopplung der deutschen Erneuerbaren, für Deutschland, jenseits der Grenze
In Ermangelung eindeutiger Zahlen sei mit den Zahlen des Ministeriums weitergerechnet. Ausgehend von den beiden Bedarfsvarianten für molekularen Wasserstoff H₂ – 360 oder 500 TWh/Jahr – und jeweils 200 TWh/Jahr Derivaten in Verbindung mit den typischen energetischen Wirkungsgraden für Erzeugung und Transport von 49 bis 63 Prozent ergeben sich Bedarfe an erneuerbaren Energien von mindestens 980 TWh/Jahr, eher aber von bis zu 1.200 TWh/Jahr.
Wird aufgrund der oben genannten, fraglichen Wirtschaftlichkeit ferner davon ausgegangen, dass Deutschland vergleichsweise so gut wie keinen eigenen Wasserstoff elektrolysieren wird, muss diese Energiemenge einerseits im Ausland bereitstehen. Andererseits sind dafür, in Ergänzung der bereits vorhandenen Wasserkraftanlagen, die nötigen Photovoltaik- und Windkraftanlagen erst noch zu installieren.
Zugleich übersteigt der Bedarf an Erneuerbaren Energie jene Energiemenge, die Deutschland selbst für seine „grüne“ Stromerzeugung im Jahr 2045 plant. Diese beträgt gemäß „Szenariorahmen A“ der Bundesnetzagentur 1.031 TWh/Jahr. Wobei hierin seinerseits 240 TWh/Jahr – etwa ein Viertel – für den Betrieb eigener Elektrolyseure vorgesehen sind.
Pikanterweise müsste jener hierfür eingeplante Strom „verklappt“ werden, sollten die Anlagen mangels Wirtschaftlichkeit doch nicht installiert werden. Das heißt aber auch, die ausländischen Wasserstoffversorger müssten für Deutschlands „Energietransformation“ mindestens das Gleiche in Erneuerbare-Energien-Anlagen investieren, wie Deutschland auf seinem eigenen Hoheitsgebiet selbst in der Lage wäre.
Wasserstoffspeicher: Noch Platz nach oben?
So wie derzeit Erdgas, benötigt auch Wasserstoff in den genannten Mengen „große“ Speicher. Wie groß, findet sich in speziellen Veröffentlichungen, deren Weg in eine konkrete Regierungsstrategie derzeit nicht erkennbar ist. Im zweiten Positionspapier des Westfälischen Energieinstituts Gelsenkirchen in „Energie- und Klimawende zwischen Anspruch, Wunschdenken und Wirklichkeit – Umsetzungspfade“ heißt es, dass der Bedarf an Wasserstoffspeichern allein für den Ausgleich saisonal stark fluktuierender Energieangebote aus Wind- und Sonnenkraft 126±28 TWh betragen dürfte. Eventuell mehr, wobei Zahlen bis über 200 TWh genannt werden.
Der Deutsche Wasserstoff- und Brennstoffzellen-Verband schrieb im November 2023 zur Thematik:
Die aktualisierten Langfristszenarien des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gehen für Deutschland von einem Speicherbedarf im Szenario ‚T45 Strom‘ von 74 TWh, in anderen Szenarien von bis zu 105 TWh im Jahr 2045, aus.“
Und weiter:
Würden alle bestehenden Erdgas-Kavernenspeicher in Deutschland entsprechend umgerüstet werden, ergibt sich ein Speicherpotenzial von 32 TWh Wasserstoff“.
Das steht in deutlichem Widerspruch. Die Speicher könnten demzufolge nicht einmal die Hälfte der vom Ministerium ermittelten Kapazität bereitstellen, geschweige denn die vom Energieinstitut ermittelten 200+ TWh. In jedem Fall ist mit einer Vervielfachung bestehender Speicherkapazitäten um Faktor 2,3 bis 4 zu rechnen und dies allein zur Sicherstellung einer unterbrechungsfreien Stromversorgung. Eine jährliche Schrumpfung der Kavernenspeicher von einem Prozent pro Jahr ist dabei noch nicht einberechnet.
… sehr viel Platz
Ebenso unberücksichtigt ist hierbei der – noch unbekannte – Speicherbedarf für den importierten Wasserstoff und seiner Derivate. Außerdem fehlt eine Festlegung für eine nationale Wasserstoffreserve ähnlich der derzeit noch vorgehaltenen strategischen Ölreserve für 90 Tage.
Geht man von einem mittleren Bedarf von rund 700 TWh jährlichem Wasserstoff(derivate)bedarf aus, bedeutet dies, dass allein für eine solche Reserve eine zusätzliche Speicherkapazität von 175 TWh vorgehalten werden müsste. Geht man von den maximalen ermittelten Werten aus, müssten die heute existierenden Kavernenspeicher verzwölfacht werden.
Zu beachten ist dabei eine Umrüstdauer von fünf Jahren für existierende Kavernenspeicher sowie zehn Jahre Dauer für deren Neubau, überwiegend wahrscheinlich in norddeutschen Salzstöcken. Wann damit begonnen werden soll, ist unklar. Die erhoffte Klarstellung durch unseren Fragenkatalog an das BMWK blieb aus.
Mangels Antworten und der aufgezeigten, teils widersprüchlichen und weitgefächerten Angaben ist davon auszugehen, dass es Stand heute – gut fünf Jahre vor dem angestrebten Ende der Kohle – keinen Überblick über die entsprechenden Erfordernisse gibt.
Epoch Times sprach anlässlich der offenen Fragen mit Prof. Löffler vom Westfälischen Energieinstitut in Gelsenkirchen. Das Interview erscheint in Kürze in einem separaten Artikel und wird hier verlinkt.
Über den Autor
Prof. Dr.-Ing. Markus J. Löffler promovierte an der TU Braunschweig als Energietechniker. Als Professor für elektrische Energiesysteme leitete er von 1996 bis zu seiner Pensionierung im März 2023 das Labor für Hochspannungs- und Hochleistungspulstechnik an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen. Er lehrte zeitweise zusätzlich an der Helmut-Schmidt-Universität (Hamburg) sowie an der Vilniaus Gedimino Technikos Universitetas (Vilnius, Litauen). Seit 2018 befasst er sich für das Westfälische Energieinstitut in Gelsenkirchen schwerpunktmäßig mit der rechnerischen Auswertung und Interpretation von Daten zur Energiewende.
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