Der nächste Krisenherd Europas: Wird Georgien zur „zweiten Ukraine“?
Eine mögliche NATO-Mitgliedschaft Georgiens wird von Moskau – ähnlich wie im Falle der Ukraine – als ernsthaftes Sicherheitsrisiko angesehen. Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 einigten sich die Bündnispartner darauf, dass die beiden Länder in Zukunft Mitglieder der NATO werden sollen. Die Ankündigung erfolgte, ohne einen Zeitpunkt anzugeben oder eine Einladung auszusprechen.
Noch im Jahr 2008 kam es zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Russland und Georgien. Dieser wurde durch französische Vermittlung diplomatisch beigelegt, aber die Lage in der Region blieb seither angespannt. Auch stehen die abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien seitdem unter russischer Kontrolle.
Nun war in der europäischen Presse in jüngster Zeit viel von Wahlbetrug, Protesten gegen die Regierung und Kritik aus Brüssel an Georgien die Rede.
Was steckt hinter den Protesten der Opposition? Warum fordert die EU Sanktionen gegen die Verantwortlichen des Landes? Und warum hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán kürzlich gesagt, er sei den georgischen Wählern dankbar, dass sie ihr Land nicht in eine zweite Ukraine verwandeln wollen?
Eine zweite Front gegen Russland?
Die rechtsgerichtete georgische Regierungspartei Georgischer Traum, die inzwischen seit 2012 ununterbrochen an der Macht ist und gerade wiedergewählt wurde, spricht sich für „pragmatische Beziehungen“ zu Russland aus. Sie habe diese auch während des Krieges zwischen Russland und der Ukraine seit dem Jahr 2022 aufrechterhalten. Die Partei stehe für friedliche Beziehungen zu Russland. Es gibt auch Berichte darüber, dass die Regierung die Sanktionen gegen Russland umgehe.
Einen Monat nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im März 2022 forderte der damalige Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, Oleksij Danilow, die beiden ehemaligen Sowjetstaaten Georgien und Moldawien dazu auf, eine zweite Front gegen Russland zu bilden. Er begründete dies damit, dass so Russlands Kräfte eingeschränkt seien und die Ukraine dadurch eher siegen könne.
Diese Bitte wurde von der Regierung in Tiflis scharf zurückgewiesen.
„Die Aufforderung an Georgien, einen Krieg gegen Russland zu beginnen, entspricht nicht den Interessen des georgischen Volkes“, sagte Micheil Sardscheladse, Mitglied der Regierungspartei und Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Menschenrechte, wie die russische Nachrichtenagentur „Interfax“ damals berichtete.
Auch Teona Akubardia, Vertreterin der oppositionellen „Reformgruppe“ im Parlament, erklärte gegenüber Reportern, dass die Aufforderung an Georgien und Moldawien eine „unvernünftige und moralisch ungerechtfertigte Aussage“ sei.
Georgien will die EU-Mitgliedschaft, aber ohne „Erpressung“
Georgien ist seit Dezember 2023 offiziell EU-Beitrittskandidat. Der Beitrittsprozess ist aufgrund der Nähe Russlands – ebenso wie im Falle der Ukraine – heikel.
Brüssel hat zudem mehrfach seinen Unmut über die jüngsten Entscheidungen der Regierung des georgischen Ministerpräsidenten Irakli Kobachidse geäußert. Zu Konflikten mit der EU kam es vor allem wegen eines Gesetzes zur Einschränkung der Rechte von LGBTQ+-Personen und eines Gesetzes über die Transparenz ausländischer Einflussnahme.
Infolgedessen setzte die EU-Kommission Anfang Oktober 2024 die Mittel zur Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung Georgiens und seines Weges zur EU-Mitgliedschaft aus. Dies entspricht etwa 121 Millionen Euro.
Ende Oktober 2024 gewann die Regierungspartei Georgischer Traum bei den Parlamentswahlen laut offiziellem Wahlergebnis eine deutliche Mehrheit von 54 Prozent. Die Staatspräsidentin und die Oppositionsparteien werfen ihr jedoch Wahlbetrug vor. Sie beschuldigen die Regierung, Georgien wieder an Russland heranrücken zu wollen – und weg von der EU. Beim Verfassungsgericht wurde Beschwerde gegen die Wahlergebnisse eingelegt, welche jedoch nicht angenommen wurde.
Ende November protestierte das Europäische Parlament gegen die Ergebnisse der Wahlen in Georgien und forderte in einer Entschließung, diese zu wiederholen und Ministerpräsident Kobachidse und andere Politiker mit Sanktionen zu belegen.
Kobachidse kündigte am selben Tag an, dass seine Regierung die EU-Beitrittsverhandlungen nicht vor 2028 auf die Tagesordnung setzen werde. Das Land sei weiterhin willens, seine Verpflichtungen aus dem Beitrittsabkommen zu erfüllen. Allerdings bitte es nicht um EU-Mittel. Das Land bereite sich selbst darauf vor, wirtschaftlich in der richtigen Lage für den Beitritt zu sein.
Kobachidse deutete an, dass die EU die Beitrittsverhandlungen als Mittel der Erpressung nutze und er wolle gegen diese vorgehen. Der Ministerpräsident sagte laut „Politico“:
Wir sind eine stolze und sich selbst respektierende Nation mit einer reichen Geschichte; daher ist es kategorisch inakzeptabel, die EU-Integration als einen Akt der Barmherzigkeit zu betrachten.“
Kobachidse fügte hinzu, dass Georgien ein EU-Mitglied „mit Würde und nicht durch Betteln“ werden wolle.
Dann kam es zu Demonstrationen
Gegen seine Entscheidung, die Beitrittsverhandlungen zu verschieben, protestierten Tausende in der Hauptstadt des Landes.
Die Regierung sagte, sie vermute, dass die teilweise gewalttätigen Proteste der Opposition aus dem Ausland finanziert werden. Dies sei ihre Art, das Land zu destabilisieren. Kobachidse beschuldigte Oppositionsparteien und NGOs, „üble Propaganda“ zu verbreiten und kündigte an, einige von ihnen zu verbieten.
In diesem Zusammenhang beschuldigte zudem der Gründer und Ehrenvorsitzende der Partei Georgischer Traum, Bidzina Iwanischwili, die Organisationen, einen Putsch in Georgien zu planen. Der Milliardär Iwanischwili gilt als der wohlhabendste Mann Georgiens und als Strippenzieher im Hintergrund der Regierung.
Ungarn und Slowakei als Verbündete in Brüssel
Brüssel erwog, einige Beamte aufgrund von Polizeigewalt während der Proteste mit Sanktionen zu belegen. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas forderte dies am 16. Dezember. Während des Treffens der EU-Außenminister am selben Tag wurde dies jedoch von Ungarn und der Slowakei verhindert.
Ungarns Außenminister, Péter Szijjártó, zufolge habe die EU das Land nur deshalb ins Visier genommen, weil nicht die liberalen Kräfte die Wahl gewonnen hätten, sondern eine „friedensorientierte, patriotische und konservative Partei“. Die Europäische Union habe im Fall von Georgien einen „Weltrekord an politischer Heuchelei aufgestellt“, so Szijjártó.
Ministerpräsident Orbán zufolge habe die „friedensbefürwortende“ Regierung Georgiens mit Ungarn und der Slowakei Verbündete gefunden.
Ungarn spricht über „elementaren politischen Angriff“
Nach dem Veto bezeichnete der ungarische Außenminister die Berichte über die Polizeigewalt während der Proteste in Tiflis als sehr einseitig. Er sagte, dass es auch gewalttätige Handlungen durch Demonstranten gegeben habe, durch die nach Angaben seines georgischen Amtskollegen etwa 40 Polizisten verletzt wurden.
„Ich denke, man kann ein Land nicht sanktionieren, weil es beschlossen hat, die Beitrittsverhandlungen bis 2028 zu verschieben“, sagte er. Weiter sagte er:
Es herrschte heute hier eine so aufgeblasene, beleidigte und frustrierte Haltung gegenüber Georgien, und ich habe das in keiner Weise unterstützt“.
Szijjártó verurteilte diesen „elementaren politischen Angriff“ und erinnerte daran, dass der Georgische Traum das Land seit zwölf Jahren regiert. In dieser Zeit habe sich das Durchschnittseinkommen verdreifacht, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und die Auslandsinvestitionen hätten sich verdoppelt. Niemand in Brüssel habe das Recht, den Willen des georgischen Volkes infrage zu stellen.
Seit den Wahlen im Südkaukasusland bekundete Budapest wiederholt seine Unterstützung für die neue Führung Georgiens. Ende Oktober war Ministerpräsident Viktor Orbán nur wenige Tage nach den Wahlen in die georgische Hauptstadt, Tiflis, gereist.
Orbán betonte während seines Besuchs, dass man die Verschiebung des EU-Beitritts von Georgien nicht als eine Absage an die EU-Mitgliedschaft verstehen solle. Sowohl die Regierungspartei des Landes als auch die Opposition widmeten sich der EU-Integration.
„Sie sind vermutlich das einzige Land der Welt, dessen Verfassung besagt, dass die EU-Mitgliedschaft zu erstreben ist“, sagte er. Dabei fügte er hinzu, dass es „überaus lächerlich“ sei, das Engagement der georgischen Regierung unter diesen Umständen infrage zu stellen.
„Es gibt ein Handbuch für die europäische Politik […], wenn die liberalen Parteien gewinnen, gibt es Demokratie, wenn die Konservativen gewinnen, gibt es keine Demokratie“, so Orbán.
Orbán: Niemand will sein eigenes Land zerstören und in einen sinnlosen Krieg hineinziehen
Orbán wies darauf hin, dass auch Ungarn ein Nachbarland der Ukraine sei und daher wisse, was Krieg bedeute, und sich auch des Wertes des Friedens bewusst sei. Der Ministerpräsident drückte damals seine Dankbarkeit dafür aus, dass die Georgier bei den Wahlen für die rechte Regierung gestimmt und damit nicht zugelassen hätten, dass ihr Land zu einer „zweiten Ukraine“ werde.
Dabei bezog er sich auf die von ihm oft kritisierte „Elite“ in Europa und den USA, die Russland klein halten wolle und dafür Kriege in der Ukraine und anderen Ländern anzettele.
„Ungarn ist ein friedensliebendes Land in Europa und wir wissen es zu schätzen, dass ihr ebenfalls auf der Seite des Friedens steht. Niemand will sein eigenes Land zerstören und in einen sinnlosen Krieg hineinziehen. Deshalb verstehen wir die Entscheidung des georgischen Volkes, das für den Frieden gestimmt hat, und das tun auch wir“, betonte der Regierungschef.
Weitere Verschärfung der politischen Krise zu erwarten
Ende Dezember wird mit einer weiteren Eskalation in Georgien gerechnet. Der am 14. Dezember das erste Mal durch ein Wahlgremium gewählte Staatschef, Michail Kawelaschwili, soll am 29. Dezember die derzeitige proeuropäische Amtsinhaberin Salome Surabischwili ablösen.
Diese will ihr Amt jedoch nicht aufgeben und fordert eine Wiederholung der Parlamentswahl. Beobachter rechnen mit einer Verschärfung der politischen Krise, falls Surabischwili sich weiterhin weigert, zurückzutreten.
Gleichzeitig gibt die EU nicht auf, die Beamten der georgischen Polizei, denen Gewalt vorgeworfen wird, zu bestrafen. Die EU-Außenbeauftragte Kallas kommentierte die jüngsten ungarischen und slowakischen Vetos in Brüssel mit den Worten: „Bei Sanktionen brauchen wir 27 an Bord. Wir sind also leider nicht dabei. Aber ich denke, die Aussetzung der Visafreiheit ist ein erster Schritt und hat auch symbolischen Charakter.“
Damit wies sie „euronews“ zufolge darauf hin, dass die Aufhebung der visumfreien Einreise für georgische Beamte und Diplomaten trotz Vetos bevorstehen könnte. Dafür sei nur eine qualifizierte Mehrheit der Stimmen nötig. Allerdings muss der Plan dafür noch von der Europäischen Kommission ausgearbeitet werden.
(Mit Material der Nachrichtenagenturen)
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