Otfried Preußler – ein Leben voller Geschichten
Im Februar 2013 machte die Nachricht vom Tod des großen Erzählers viele Familien – Erwachsene und Kinder gleichermaßen – traurig.
Über Jahrzehnte hat der Autor Buch für Buch Generationen von Lesern fast wie ein väterlicher Freund begleitet. Nun war sein Werk endgültig abgeschlossen.
Zeitlos schönes Werk
Als großer Trost blieben seine warmherzigen, tiefsinnigen, oft lustigen, berührenden und Mut machenden Erzählungen. Großeltern und Eltern lesen sie Enkeln und Kindern auch heute noch mit Freuden vor. Für Heranwachsende und Jugendliche sind Preußlers Bücher zeitlos begeisternder Lesestoff.
Doch ob beim Vorlesen, Lauschen oder Lesen – in Preußlers kraftvoll bildhafter Sprache entfaltet sich immer ein ganz besonderer Zauber.
Das außergewöhnliche Werk gab und gibt bis heute das weiter, was der Autor selbst in seiner Kindheit erfahren durfte. Denn: Schon als kleinen Jungen ziehen ihn die Erzählungen seiner Großmutter in ihren Bann.
Fernsehgeräte und elektronische Medien gibt es in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts nicht. Eigene Wahrnehmung, eigenes Erleben, Gehörtes, Gelesenes und Erzähltes bewegen die Vorstellungskraft und Gedanken. In Otfried Preußler klingen die Geschichten seiner Kindheit, die ihn umgebende Welt und die in seiner kindlichen Fantasie entstandenen inneren Landschaften und Bilder ein Leben lang nach.
Prägende Überlieferungen
Auch intensive Lektüre sei schon sehr früh eine große, prägende Leidenschaft gewesen, berichtet Preußler 1982 über seine Kindheit. „Ich bin unter Büchern aufgewachsen“, schreibt er. „Allerdings muss ich sagen“, fährt er fort, „dass kein einziges dieser vielen Bücher auch nur annähernd an die Geschichten heranreichte, die wir an manchen Abenden von unserer Großmutter Dora erzählt bekamen.“
Denn, so erzählt er, „die Mutter meines Vaters war eine großartige Geschichtenerzählerin. […] Ihr Vater war Hufschmied gewesen und betrieb neben der Schmiede eine Fuhrmannsherberge, wo die Lausitzer Fuhrleute auf der Fahrt nach Prag übernachteten. An langen Abenden“, so Preußler, „muss da viel erzählt worden sein, und die Großmutter Dora hat als Kind diesen Erzählungen fleißig zugehört. Deshalb steckte sie bis ins hohe Alter voller Geschichten, die sie auf kunstvolle Weise zu variieren und auszuspinnen verstand und meinem Bruder und mir erzählte.
Es waren Geschichten nach unserm Herzen: Lustig und bunt, wie Kinder sie mögen, voll unerwarteter Wendungen, häufig an überlieferte Stoffe und Episoden anknüpfend – und doch frei dahin fabuliert, […] bis sie nach mancherlei kühnen Schleifen und listig herbeigeführten Verwirrungen doch noch zu einem guten Ende kamen.“
„Nun war meine Großmutter eine bescheidene Frau“, erinnert sich der Autor, „weshalb sie uns Kindern weismachte, alles, was sie uns da erzähle, stamme aus einem dicken alten Geschichtenbuch. Heute weiß ich: Dieses Geschichtenbuch meiner Großmutter, das es in Wirklichkeit überhaupt nicht gegeben hat, ist das wichtigste aller Bücher für mich, mit denen ich je im Leben Bekanntschaft gemacht habe.“
Glückliche Kindheit, späterer Krieg
Im nordböhmischen Reichenberg verbringt Otfried Preußler eine glückliche Kindheit. Vater und Mutter sind Lehrer. Der Vater nimmt seinen Sohn auf ausgedehnte Wanderungen ins Iser- und Riesengebirge mit und trägt als passionierter Heimatforscher alte Sagen und Erzählungen zusammen.
In böhmischen Wohnstuben notiert er Überlieferungen und Geschichten, die ihm die Leute gerne erzählen. Sein Sohn lauscht auch hier voll Faszination und Freude und sammelt so – noch ohne es zu ahnen – für sein eigenes erzählerisches Werk einen einzigartigen immateriellen Schatz.
Die Jahre vergehen und auch die scheinbar zeitentrückte, heile, ländliche Welt Böhmens bleibt von den verhängnisvollen Umwälzungen im Deutschland der 30er-Jahre nicht verschont. Oft erschütternd naiv und von nationalsozialistischer Massenpropaganda verführt, melden sich auch hier viele junge Männer ab 1939 freiwillig zum Kriegsdienst.
So im Jahr 1942 auch der gerade 19-jährige Otfried Preußler. Zwei Jahre später gerät er in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Er erkrankt schwer, magert auf 40 Kilogramm ab und wird von einer mitfühlenden russischen Ärztin vor dem sicheren Tod gerettet. Sie selbst hat ihren eigenen, fast gleichaltrigen Sohn in den grausamen Schrecken des Krieges verloren.
Geschichten für die Seele
Fünf lange Jahre dauert die Gefangenschaft Preußlers. Kraft und Zuversicht findet er in dieser Zeit immer wieder im Ersinnen von Gedichten, Geschichten und kleinen Theaterstücken. Als Jugendlicher hatte er mit dem Schreiben begonnen. Nun spricht er seinen Mitgefangenen und sich selbst mit kleinen Schriften – mithilfe von selbst gemachter Tinte auf das Papier leerer Zementsäcke gebracht – Mut zu.
In Erinnerung an diese Zeit schreibt er 2002: „Damals bin ich zum Optimisten geworden, denn seither weiß ich, dass der Mensch ein unbeschreiblich zähes, geduldiges und belastbares Wesen ist, das selbst in ausweglos erscheinenden Situationen die Kraft zu entwickeln vermag, sich nicht aufzugeben. Und noch etwas ist uns damals aufgegangen, falls wir es nicht schon gewusst haben sollten: Der Mensch braucht Geschichten. Wie er sein tägliches Brot braucht. Brot für die Seele, wie Maxim Gorki einmal gesagt hat.“
Freude am Leben und am Erzählen
Erst im Jahr 1949 kann er nach Deutschland zurückkehren und findet seine aus Böhmen geflohene Familie im bayrischen Rosenheim wieder. Auch Otfrieds Jugendliebe und Verlobte Annelies Kind hat es hierher verschlagen. Noch im selben Jahr heiraten die beiden.
Preußler arbeitet schon bald als Lokalreporter, schreibt Geschichten für den Kinderfunk des „Bayrischen Rundfunks“, entscheidet sich aber schließlich für das Lehrerstudium. Er wird Vater von drei Mädchen und unterrichtet 16 Jahre lang bis 1970 als Volksschullehrer.
Diese Jahre seien, so schreibt er, „Jahre gewesen, in denen auch ich – und zwar als Geschichtenerzähler – zur Schule gegangen bin.“ In dieser Zeit reift nun auch der Entschluss, vor allem für „das beste und klügste Publikum […], das man sich nur wünschen kann“, für Kinder zu schreiben.
Schon 1956 gelingt Preußler der erste große Erfolg: „Der kleine Wassermann“. 1957 folgt „Die kleine Hexe“ und fast jedes Jahr erscheint nun ein weiteres Buch aus Otfried Preußlers Feder, auf das immer mehr kleine und große Leser schon sehnlichst warten.
„Der Räuber Hotzenplotz“, „Das kleine Gespenst“, „Der starke Wanja“ begeistern eine stetig anwachsende Leserschar. Insgesamt 38 Kinder-, Jugend- und Bilderbücher sollen es in den kommenden Jahrzehnten werden.
Oft verfasst Otfried Preußler darüber hinaus auch die Hörspielfassungen seiner Geschichten oder liest sie seinem jungen Publikum bei unzähligen Lesungen vor.
Zeitlos faszinierende Parabel
Im Jahr 1971 erscheint der Roman „Krabat“, Preußlers vielleicht wichtigstes und tiefgründigstes Buch. „Mein ‚Krabat‘ ist keine Geschichte, die sich nur an junge Leute wendet, und keine Geschichte für ein ausschließlich erwachsenes Publikum“, schreibt Preußler über das Buch, das seit seinem Erscheinen unzählige Leser in seinen Bann zieht.
„Es ist die Geschichte eines jungen Menschen, der sich mit finsteren Mächten einlässt, von denen er fasziniert ist, bis er erkennt, worauf er sich da eingelassen hat“, schreibt Preußler. „Es ist zugleich meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation, und es ist die Geschichte aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken.“
In „Krabat“ greift Preußler alte, über Generationen überlieferte Geschichten aus der Lausitz auf, von denen er selbst in seiner Kindheit gehört hatte. Fröhlichkeit, Scherz und Zauber der Kinderbücher klingen in der Geschichte um den Waisenjungen Krabat nur in wenigen, leisen Momenten an. Stattdessen erkennt der naive Held im Laufe der Ereignisse immer mehr das dunkle Wesen der Bedrohung, in die er geraten ist.
Nur wahre Freundschaft und echte Liebe vermögen ihn aus der verhängnisvollen Gefahr zu erlösen – und sie tun es.
Einige Bücher Otfried Preußlers sind verfilmt worden. So auch „Krabat“. Keine Verfilmung kommt jedoch an die Bilder heran, die der Erzähler Otfried Preußler in der Fantasie seiner Leser zu erzeugen vermag. So wie die Bilder, die im kleinen Jungen aus Reichenberg durch die Erzählkunst der Großmutter entstanden, so sind auch die Bilder in der Vorstellung jedes einzelnen Lesers von einzigartiger und unvergleichlicher Magie.
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