Die Schuld auflösen, unter der Frauen leiden
Frauen haben mit dem Gefühl der Schuld mächtig zu kämpfen. Das beobachte ich seit fast 30 Jahren als Psychotherapeutin, aber auch als Freundin, Mutter, Arbeitgeberin und Nachbarin. Wenn es um emotionales Wohlbefinden geht, sind Schuldgefühle vielleicht das größte Hindernis, dem wir gegenüberstehen.
Auch Männer haben mit Schuldgefühlen zu kämpfen, es ist schließlich ein menschliches Gefühl. In diesem Artikel soll es diesmal aber nicht um Männer gehen und auch nicht um Schuld in einem umfassenden Sinn, wie sie mit der Erbsünde einhergeht. Es geht vielmehr um Frauen und unsere Angewohnheit, uns für beinahe alles schuldig zu fühlen.
In meinem Büro sehe ich tagtäglich Folgendes: Viele Frauen glauben, dass sie für alles, was „falsch“ ist, in der Vergangenheit „falsch“ gelaufen ist und auch in Zukunft „falsch“ laufen wird, verantwortlich zeichnen. Sie denken, wenn eine Situation nicht passt oder mit dem Gegenüber etwas nicht stimmt, hätten sie etwas getan, das dies verursacht. Sie fühlen sich schuldig und dafür verantwortlich, das Problem zu lösen. Gleichzeitig haben Frauen Schuldgefühle, wenn sie sich um etwas kümmern oder etwas für sich selbst benötigen. Die Wahrheit ist: Frauen fühlen sich die meiste Zeit über schuldig. Schuldgefühle sind unser Normalzustand.
Um die Neigung der Frauen zu Schuldgefühlen zu verstehen, können wir die Wissenschaft zu Rate ziehen. Frauen kommen mit Neurochemikalien auf die Welt, die Einfühlungsvermögen, Fürsorge und Bindung stimulieren. Das weibliche Geschlecht ist tendenziell stärker auf Beziehungen ausgerichtet als Männer. Das ist natürlich nicht immer der Fall, im Allgemeinen stützen jedoch Studien die Tatsache, dass Frauen biologisch darauf ausgelegt sind, die Erfahrungen anderer Menschen nachzuempfinden (vielleicht, um sich um ihre Nachkommen kümmern zu können).
Unsere empathische Fähigkeit ist jedoch nicht das Problem. Das Problem ist, dass wir unser angeborenes Einfühlungsvermögen für die Erfahrungen anderer Menschen gegen uns selbst verwenden. Viele Frauen glauben, dass sie schlecht wären, wenn sie es nicht schafften, alle zufriedenzustellen. Unsere Gabe der Freundlichkeit und des Schaffens von Verbundenheit verwandelt sich in eine Lieblosigkeit, die wir gegen uns selbst richten.
Gleichzeitig haben wir durch unsere kulturelle Prägung gelernt, dass wir unsere emotionale Sicherheit und Zugehörigkeit am besten dadurch erlangen, indem wir sympathisch und liebenswürdig sind. So verwenden wir viel Energie darauf, charmant und angenehm zu sein, was für Frauen bedeutet, andere Menschen bei Laune zu halten. Reagiert das Gegenüber unzufrieden, wenn etwas als „fehlerhaft“ empfunden wird, bedeutet dies, dass wir versagt haben. Wir laufen dann Gefahr, abgelehnt und kritisiert zu werden und dadurch unseren Platz in der Gesellschaft zu verlieren. Die Schuld für die Erfahrungen anderer zu übernehmen, wird folglich zu einer Art emotionaler Überlebensstrategie. So bleiben wir weiterhin liebenswert.
Um die Kontrolle zu behalten, gehen wir davon aus, dass alles unsere Schuld wäre. Denn sind wir an allem schuld und haben wir alles zerstört, so haben wir auch in der Hand, alles wieder in Ordnung zu bringen. Wir können es besser machen und besser sein – und dann würde alles gut.
Was aber, wenn wir nicht alles bereinigen können, indem wir uns selbst korrigieren? Was, wenn Dinge aus unbekannten Gründen schief laufen? Und was ist, wenn nicht alles unsere Schuld ist? Das würde bedeuten, dass das Leben nicht vollständig unserer Kontrolle unterliegt. Es würde bedeuten, dass das Leben nach den Bedingungen des Lebens abläuft, nicht nach unseren. Es würde bedeuten, dass wir nicht der (negative) Mittelpunkt des Universums sind.
Für viele ist die Vorstellung beängstigend. Wir vermeiden es, anzuerkennen, dass Dinge einfach aus einer Vielzahl von Gründen geschehen. Selbst wenn das bedeutet, in ständiger Schuld und Selbstverurteilung zu leben, anstatt der Tatsache ins Auge zu blicken, dass vieles im Leben nicht in unserer Hand liegt oder sich gar um uns dreht.
Paradoxerweise sind Schuldgefühle auch ein Mittel, um uns davor zu bewahren, das zu fühlen, was wir fühlen sollten. Funktioniert etwas in unserem Leben nicht nach Plan, so konzentrieren wir uns auf all die Gründe, die wir zu verantworten haben, und auf das, was mit uns nicht stimmen könnte. Dies hält uns jedoch davon ab, die Gefühle zu empfinden, die mit dem Geschehenen verbunden sind. Sich für etwas verantwortlich zu fühlen und Schuldgefühle zu haben, ist zwar schmerzhaft, aber es verhindert auch, dass wir den Schmerz empfinden, der eigentlich mit der aktuellen Situation verbunden wäre. So bleiben wir letztlich im Grübeln und in negativen Gedankenschleifen über unsere eigene Zerrissenheit hängen. Stattdessen wäre es gut, die Gefühle im gegenwärtigen Moment zu verarbeiten, die uns dabei helfen würden, vorwärtszukommen.
Wenn wir uns in Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen verstricken und über unsere Schuld grübeln, verzichten wir auf die Gelegenheit, das, was nicht funktioniert, tatsächlich anzupacken. Wir verlieren uns in der vertrauten und wohligen Unbehaglichkeit der Erzählung über unser Versagen. Dadurch werden wir von der wichtigsten Frage abgelenkt: Wie können wir verbessern, was nicht gut läuft? Wir verzichten auf die Chance, auf unserem Weg voranzuschreiten. Das Grübeln über unsere Zerrissenheit trägt nicht dazu bei, die Situation zu verbessern. Am Ende des Tages stecken wir in den alten Schuld- und Schamgefühlen fest und landen bei der immer gleichen Frage: „Was ist los mit mir?“ Eine Frage, die wir nur zu gut kennen.
Wie durchbrechen Sie also den Kreislauf und ändern Ihr Muster?
Sie haben Ihre chronischen Schuldgefühle nicht über Nacht erworben und Sie werden sie auch nicht über Nacht loswerden. Wie bei allem beginnt Freiheit mit Bewusstheit. Zunächst bemerken Sie in kleinen Schritten Ihre Tendenz, sich selbst die Schuld zu geben, und die Art und Weise, wie Sie in den Sumpf aus Schuldgefühlen fallen. Sobald Sie merken, dass Sie fallen, können Sie sich fangen und sich selbst aus dem Sumpf herausziehen.
Vielleicht erzählt Ihnen Ihre 11-jährige Tochter, dass sie traurig ist, weil sie keine Freunde hat. Daraufhin stellen Sie fest, dass Sie sofort darüber nachgrübeln, wie Sie das wohl verursacht haben könnten und ob Sie schuld daran sind, Ihre Tochter zu einer Außenseiterin erzogen zu haben. Sobald Sie merken, dass Sie sich gegen sich selbst wenden und in ein Loch der Selbstbeschuldigung fallen, halten Sie inne und tun etwas anderes: Schenken Sie sich selbst Wohlwollen statt Kritik. Verlassen Sie den gewohnten Pfad, der in die alte, stagnierende Schuldgrube führt und nehmen Sie einen neuen Weg.
Wie man andere Entscheidungen trifft
Wenn Ihnen das alles allzu bekannt vorkommt, probieren Sie diese zweistufige Methode aus:
Schritt 1: Fühlen Sie, wie sich die Situation anfühlt.
Fühlen Sie die Situation und nicht, wie es sich anfühlt, die Ursache dafür zu sein. Wie fühlen Sie sich zum Beispiel, wenn Sie wissen, dass Ihre Tochter traurig ist, weil sie keine Freunde hat? Achten Sie gleichzeitig darauf, ob sich Ihre Gefühle gegenüber Ihrer Tochter (oder einer anderen Situation) ändern, wenn Sie sich nicht schuldig fühlen, die Situation verursacht zu haben.
Schritt 2: Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt.
Was kann getan werden, um die Situation zu verbessern? Zum Beispiel, wie Sie die Beziehung Ihrer Tochter zu anderen Kindern verbessern können. Konzentrieren Sie sich nicht darauf, was mit Ihnen nicht stimmt, sondern auf den gegenwärtigen Moment und darauf, wie Sie Veränderungen herbeiführen können.
Wenn Schuld zur Gewohnheit wird, verursacht sie großes Leid und Stagnation. Schuld ist eine Gewohnheit, die wir ablegen können. Wir müssen uns nicht die ganze Zeit schuldig fühlen. Läuft etwas schief, müssen wir uns nicht sofort vor den Bus werfen. Damit sich die Gewohnheit der Schuldgefühle jedoch auflöst, müssen wir uns dafür entscheiden, sie anders zu leben. Treffen Sie also diese Entscheidung und achten Sie darauf, wer Sie sind und wer Sie werden, wenn Sie aufhören, sich selbst zu beschuldigen.
Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel: „The Guilt That Women Suffer“ (deutsche Bearbeitung aa)
Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 60, vom 03. September 2022.
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