Uni Halle: Corona-Infografiken verdecken den Blick aufs Wesentliche
Wie lassen sich der Verlauf und die Folgen einer Pandemie darstellen? In den vergangenen Monaten haben sich Corona-Dashboards – interaktive grafisch aufbereitete Übersichtswebsites – als Standard zur Darstellung von Infektionsraten, Todesfällen und Verbreitungsmustern durchgesetzt. Das ist problematisch, so der Humangeograph Prof. Dr. Jonathan Everts von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU).
In einem Kommentar für die Fachzeitschrift „Dialogues in Human Geography“ kritisiert Everts den Umgang mit den Programmen und zeigt auch, welche Aspekte der Pandemie durch sie unberücksichtigt bleiben.
„Zu komplex, um sie einfach so zu verwenden“
In einer Pressemitteilung der Universität heißt es: Dashboards sind Computerprogramme, die verschiedene Daten, Informationen und Statistiken zu einem Thema zusammentragen und diese möglichst übersichtlich grafisch darstellen. Das können einfache Zahlen, Diagramme oder angereicherte Karten sein. Während der Corona-Pandemie hat sich die „COVID-19 Map“ der Johns Hopkins University in den USA als Standard etabliert. Auch die Übersicht des RKI für Deutschland basiert darauf.
„Ein Dashboard suggeriert immer, dass man alle wichtigen Daten im Überblick hat“, sagte Everts, Professor für Anthropogeographie in Halle. Die Daten dafür werden nahezu in Echtzeit aktualisiert und sind für jeden einsehbar. Das jedoch sei ein Problem, so Everts, da diese Websites nicht mehr nur von Gesundheitsbehörden genutzt werden, sondern von vielen Menschen weltweit.
Häufig mangele es an einer genauen oder allgemein verständlichen Erklärung, wie diese Zahlen zustande kommen, sagt Everts. Er betont:
Diese Werte sind eigentlich zu komplex, als dass man sie einfach so verwenden sollte. Dadurch entstehen vereinfachte Erklärungen für sehr komplexe Phänomene.“
Ein Beispiel hierfür seien die Sterberaten, die regional extrem unterschiedlich sein können. „Diese Unterschiede lassen sich nicht allein durch die lokal getroffenen Gesundheits- und Präventionsmaßnahmen erklären, was Dashboards aber durch ihre geografische Darstellung erst einmal nahelegen“, sagte Everts.
Für eine bessere Ursachenanalyse bedürfe es einer differenzierten Betrachtung der regionalen und demografischen Besonderheiten. Diese können aber in der Regel gar nicht abgebildet werden. So geben Corona-Dashboards zum Beispiel keine Information darüber, in welchen gesellschaftlichen Gruppen und an welchen Orten sich das Virus lokal besonders schnell ausbreitet. Diese Informationen seien aber nötig, um geeignete Maßnahmen zur Eindämmung des Virus zu treffen, so Everts.
Corona-Dashboards verschleiern die eigentlichen Probleme
Durch den Fokus auf einzelne Kennwerte könne schnell ein falscher Eindruck entstehen. Sinkende Fallzahlen ließen etwa vermuten, die Krise sei zügig ausgestanden. Dabei geraten jedoch die möglichen langfristigen negativen Folgen der Pandemie – und der Schutzmaßnahmen – aus dem Blick.
„Eine große Sorge gilt den Ländern, die sich durch die Pandemie jetzt Zukunftsprobleme geschaffen haben“, sagte Everts. „Dazu gehören beispielsweise Länder in Afrika, in denen aufgrund der Ausgangssperren und Kontaktverbote über lange Zeiträume Impfkampagnen unterbrochen wurden. Daraus resultieren gravierende Probleme für die kommenden Jahre.“
Auch dass Menschen aus Angst vor einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus womöglich Routinetermine bei Fachärzten nicht wahrgenommen hätten, könnte mittelfristig zu Problem führen, etwa bei zu spät diagnostizierten Herzinfarkten oder Bluthochdruck. So blieben gesellschaftliche Ungleichheiten verborgen, die durch die Pandemie noch weiter verstärkt oder ganz neu erschaffen werden könnten.
Die Krise besteht aus zwei Teilen: Das ist zum einen das Virus, das um die Welt geht. Und zum anderen ist es der gesellschaftliche Umgang damit“, sagte Everts.
Er plädiert deshalb für einen differenzierteren und vorsichtigen Umgang mit den Corona-Kenngrößen im Speziellen und Dashboards im Allgemeinen. Außerdem bedürfe es einer kritischen, ausgewogenen Beobachtung der alten und durch die Pandemie neu verursachten Probleme.
(Mit Material der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU))
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