Thomas von Aquin: Auf dem goldenen Mittelweg zu mehr Wohlbefinden

Der Heilige und Philosoph Thomas von Aquin verband das antike griechische Denken mit dem Christentum. Seine Erkenntnisse sind heute noch genauso zeitlos wie im mittelalterlichen Europa.
Thomas von Aquin über Tugend und Sünde
Der Heilige und Philosoph Thomas von Aquin verband das antike griechische Denken mit dem Christentum und schuf somit einen Moralkodex von immer noch aktueller Gültigkeit.Foto: kms/Epoch Times; nach Gemeinfrei und sticker2you/iStock
Von 26. Oktober 2024

Laut dem englischen Philosophen Anthony Kenny war der Heilige Thomas von Aquin „einer der zwölf größten Philosophen der westlichen Welt“. Der Dominikanermönch aus dem 13. Jahrhundert war nicht nur ein hervorragender Schriftsteller und Logiker, sondern auch ein begabter Lehrer und Dichter.

In seinen Schriften vertrat Aquin eine widerspruchsfreie christliche Weltanschauung. In ihr ergänzten sich Glaube und Vernunft, um ein ethisches Leben zu ermöglichen. Seine Vorstellung von Tugend als Gleichgewicht zwischen den Extremen kann helfen, Fehler klarer zu erkennen. Außerdem ist es möglich, ein Leben in die richtige Bahn zu lenken.

Thomas von Aquin

Thomas von Aquin, gemalt von Francisco de Zurbarán (1598–1664). Foto: Gemeinfrei

Aquin inspiriert von Aristoteles

Um Thomas von Aquin zu verstehen, muss zuerst sein philosophisches Vorbild betrachtet werden: Aristoteles. Der griechische Universalgelehrte stellte vor 1.500 Jahren drei grundlegende Fragen, die Aquins Denken geprägt haben: Wer bin ich? Wie sollte ich leben? Wohin gehe ich?

Aristoteles’ Antwort lautete: „Der Mensch ist offenbar ein staatliches Wesen, und zwar mehr als die Bienen und die in Herden lebenden Tiere. Denn die Natur macht, wie man sagt, nichts umsonst und der Mensch allein von allen lebendigen Geschöpfen besitzt die Sprache.“

„Sprache“ ist die Fähigkeit, zu denken, Recht von Unrecht zu unterscheiden und dieses Wissen für das tägliche Leben zu nutzen. Wir müssen nach der Vernunft in Gemeinschaften leben, die unsere gemeinsame Menschlichkeit fördern. Das ist notwendig, um unser Ziel zu erreichen: die Eudaimonie.

Büste von Aristoteles aus Marmor. Römische Kopie nach dem griechischen Bronze-Original von Lysippos, um 330 vor Chr. Foto: Gemeinfrei

Eudaimonie wird oft mit „Glück“ oder „Freude“ übersetzt, obwohl es tiefer als beides geht. Wörtlich bedeutet es „einen guten Geist in sich tragen“. Es ist eine anhaltende Glückseligkeit, die emotionales Wohlbefinden und geistiges Hochgefühl miteinander verbindet.

Aristoteles räumte ein, dass Eudaimonie teilweise außerhalb unserer Kontrolle liegt. Er war der Meinung, dass Gesundheit, Reichtum, Geburtsort und sogar körperliche Attraktivität das Ausmaß beeinflussen, in dem wir sie erreichen können, allerdings können wir kaum wählen, wie viel wir davon in unserem Leben haben.

Dennoch war der griechische Philosoph nicht der Auffassung, dass alle künftigen Ereignisse durch Vorbedingungen eindeutig festgelegt sind. Er glaubte an das menschliche Handeln. In seinem Werk „Nikomachische Ethik“ zeigt er einen Weg auf, wie Menschen durch ständiges und bewusstes Bemühen bestimmte Tugenden kultivieren können.

Sechstes Buch der Nikomachischen Ethik von Aristoteles. Abschrift für Andrea Matteo Acquaviva, den Herzog von Atri, Italien. Foto: Gemeinfrei

Der goldene Mittelweg

Für Aristoteles zielt alles, was wir tun – vom Lernen für eine Prüfung bis zur Entwicklung einer Beziehung – auf dieses eine Gut ab: die Eudaimonie. Da wir rationale Wesen sind, können wir unser Streben nach Eudaimonie mithilfe der Vernunft lenken. Wir können uns unserer Taten bewusster werden und aktiv Mustern folgen, die besser mit der Tugend in Einklang stehen. Dazu schlug Aristoteles vor, die „goldene Mitte“ anzustreben.

Zum Beispiel stehen wir oft vor Dingen, die uns Angst machen. Die Tugend, die uns hilft, die Angst zu überwinden, ist der Mut. Wenn wir zu wenig Mut haben, verhalten wir uns feige. Wir stellen uns nicht unserer Angst, obwohl wir das sollten.

Wir können aber auch zu viel Mut haben, was Aristoteles „Unbesonnenheit“ nannte. Das ist der Fall, wenn wir eine Angst ignorieren, die wir beherzigen sollten, beispielsweise wenn wir in einer abgelegenen Wildnis von sicheren Wanderwegen abweichen.

Thomas von Aquin

„Triumph des Heiligen Thomas von Aquin“, gemalt von Benozzo Gozzoli (1420–1497). Foto: Gemeinfrei

Ein weiteres Beispiel für die goldene Mitte ist die „Mäßigung“. Das eine Extrem ist die „Zügellosigkeit“, also die Neigung, sich ungehemmt einem Vergnügen hinzugeben wie übermäßig Alkohol zu trinken. Das andere Extrem ist die „Unempfindlichkeit“, also nicht die richtigen Vergnügungen auf die richtige Weise und zur richtigen Zeit zu genießen. Ein Beispiel dafür ist die starre Abneigung gegen grundlegende Vergnügungen, die wir aus elementaren Bedürfnissen wie Essen, Trinken oder Bewegung ableiten.

Extreme aller Art schließen die Tugend aus. Wir können nur dann tugendhaft handeln, wenn wir uns in der Nähe der goldenen Mitte bewegen. Dazu sollten wir Situationen mit Vernunft betrachten und den bestmöglichen Weg wählen: Sollten wir unsere Angst überwinden oder besser die Warnungen beherzigen? Verlangt der Augenblick nach maßvollem Genuss, oder ist die Zurückhaltung die bessere Wahl? Je mehr wir nach der Vernunft handeln, desto mehr richten wir uns an der Tugend aus.

Bleiglasfenster zeigt den Heiligen Thomas von Aquin

Das Bleiglasfenster der Saint Joseph’s Catholic Church zeigt den Heiligen Thomas von Aquin. Foto: Nheyob, Wikimedia Commons | CC BY-SA 4.0

Aquin über Tugend und Sünde

An der Universität von Neapel las Aquin zum ersten Mal Aristoteles’ „Nikomachische Ethik“. Später verbrachte er einen Großteil seiner beruflichen Laufbahn mit dem Versuch, Aristoteles’ Konzept der Tugend mit seiner eigenen christlichen Weltanschauung in Einklang zu bringen. Seine Bewunderung für den Griechen war so groß, dass Aquin ihn einfach nur „den Philosophen“ nannte.

Wenn Aquin von „Sünde“ im täglichen Leben sprach, dachte er meist an Aristoteles’ goldenen Mittelweg. In der „Summa theologica“ beispielsweise wird die universelle Neigung zum Erwerb von Wissen, das ein gutes Leben ermöglicht, erörtert. Auf Lateinisch nannte Aquin dies „studiositas“, auf Deutsch: Wissbegier.

Deckblatt der „Summa theologica“, Nachdruck aus dem Jahr 1596. Foto: Gemeinfrei

Wissbegier hilft uns, ein angemessenes Verlangen nach Lernen zu entwickeln. Diese Tugend stellt sicher, dass wir aus den richtigen Gründen nach Wissen streben, etwa um die Wahrheit zu verstehen und Weisheit zu kultivieren. Für Aquin steht diese maßvolle Herangehensweise an das Lernen letztlich im Dienste Gottes, da die Anbetung Gottes unsere moralische Entwicklung gewährleistet.

Ein Mangel an Wissbegierde zeigt einen Mangel an Interesse daran, ein besserer Mensch zu werden. Dieser Mangel charakterisiert ein Extrem, das vergleichbar mit Feigheit, also fehlendem Mut, ist. Aquin hat diesen Mangel nicht im Detail diskutiert. Er hielt es für offensichtlich, dass jeder, der sich nicht auf eine ethische und spirituelle Reise begeben will, auf ein gutes Leben verzichtet.

Das andere Extrem der „studiositas“ ist die „curiositas“, die Aquin als ein Verlangen nach Wissen beschreibt, „das im Übermaß vorhanden ist“. Wenn also eine übermäßige Wissbegier vorhanden ist, wird unser Wissensdurst von falschen Motiven angetrieben oder auf schädliche Weise verfolgt.

In Aristoteles’ Worten ist die „curiositas“ ein Laster, das unser Bemühen um Wissen durch Stolz, Eitelkeit, Macht und andere schädliche Absichten verzerrt. Aquin betrachtete sie als Sünde, da sie Menschen an einem tugendhaften Glaubensleben hindert, welches Wohlergehen ermöglicht.

Thomas von Aquin

Thomas von Aquin, gemalt von Carlo Crivelli (circa 1435–circa 1495). Foto: Gemeinfrei

Eine Brücke zwischen zwei Welten

Aquin stimmte mit Aristoteles überein, dass das Erreichen der Eudaimonie sich teilweise der menschlichen Kontrolle entzieht, doch seine Erklärung hierfür war anders. Der Theologe vertrat die Ansicht, dass wir in diesem Leben niemals vollkommene Eudaimonie erreichen können. Tugend auf Erden ist möglich und notwendig, aber letztlich unzureichend. Die vollkommene Eudaimonie besteht in der Seligkeit, die uns eine Vereinigung mit Gott schenkt, die nur jenseits der Grenzen unserer Sterblichkeit erreicht werden kann.

Zusätzlich zu den Tugenden brauchen wir Gott, um unsere Natur zu verändern, damit wir an der göttlichen Seligkeit teilhaben können. Daher hat Aquin den Grundgedanken des Aristoteles abgewandelt: „Die Tugend ist eine gute Eigenschaft des vernünftigen Geistes, kraft deren recht gelebt wird, die niemand schlecht gebraucht, die Gott in uns ohne uns wirkt.“

Die drei göttlichen Tugenden nach Thomas von Aquin waren Glaube (lat. fides), Hoffnung (lat. spes) und Liebe (lat. caritas). Foto: Gemeinfrei

Trotz der Kritik an einigen seiner Vorschläge trugen die intellektuellen Bemühungen von Aquin dazu bei, Brücken zwischen der antiken Welt und dem Christentum zu bauen. Fünfzig Jahre nach seinem Tod sprach ihn Papst Johannes XXII. heilig. Seine Geisteskraft brachte ihm auch einen Platz in Dantes „Göttlicher Komödie“, hier verweilt die vergöttlichte Seele des Heiligen neben anderen Weisen im Sonnenhimmel.

Als Theologe beschäftigte sich Thomas von Aquin regelmäßig mit abstraktem Denken. Dennoch wusste er, dass das Wichtigste im Leben darin besteht, nach soliden Richtlinien und Überzeugungen zu handeln. Deshalb dachte er intensiv über moralische Integrität nach, um auch künftig Menschen ein tugendhaftes und in gutem Glauben stehendes Leben ermöglichen zu können.

Grab des Heiligen Thomas von Aquin in Toulouse, Frankreich

Die Gebeine des Heiligen Thomas von Aquin liegen heute in der Jakobinerkirche in Toulouse, Frankreich. Foto: Didier Descouens, Wikimedia Commons | CC BY-SA 4.0

Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel: „Saint Thomas Aquinas on Virtue and Sin“. (redaktionelle Bearbeitung kms)



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