Die Geheimnisse der glücklichen Hundertjährigen

24.848 Menschen in Deutschland lebten schon im Jahr 1923 oder eher – ohne Anti-Aging-Cremes. Über 100 Jahre alt zu werden, ist kein Zufall, es ist eine Lebenskunst.
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In den „Blue Zones“ wohnen die meisten 100-Jährigen. Symbolbild.Foto: Younes Kraske/iStock
Von 8. November 2023

Meine Freundin, die etwas älter ist als ich, sagt immer wieder, dass sie mindestens 103 Jahre alt werden möchte. Das freut mich jedes Mal, denn ich würde gerne vor ihr sterben oder zumindest gleichzeitig mit ihr gehen, da das Leben ohne sie für mich weniger schön wäre. Aus meiner Sicht haben wir gute Chancen, dieses Ziel zu erreichen.

Im Gegensatz zu mir lebt sie seit Jahren hauptsächlich vegetarisch und im Einklang mit der Natur. Sie umgibt sich mit Tieren und Menschen, zu denen sie eine Beziehung hat und für die sie Verantwortung übernimmt. Dadurch bleibt sie ständig in Bewegung, während ich gerne mal sitzen bleibe.

Wenn ich zum Beispiel ein Glas Wein haben möchte, steht sie schon längst auf und bringt es mir. Sie beginnt den Morgen mit moderatem Yoga oder einem Sprung in den See vor ihrem Haus. Abends ist sie noch im Studio oder sogar auf der Bühne und verbreitet Musik und Freude unter den Menschen. Ich glaube, sie hat gute Chancen, in ein paar Jahren zu den über 100-Jährigen zu gehören.

Menschen in Industrienationen werden älter, aber auch kränker

Ende des Jahres 2022 gab es in Deutschland 24.848 Personen im Alter von 100 Jahren und älter – der höchste jemals bisher erfasste Wert. Darunter sind viermal so viele Frauen wie Männer. Die Statistik sagt jedoch nichts darüber aus, in welcher Situation und in welchem gesundheitlichen Zustand diese Menschen altern, wie viele von ihnen durch medizinische Fortschritte am Leben erhalten werden oder ob sie ein erfülltes Leben führen.

Bereits 2018 stellte der WHO-Gesundheitsreport fest, dass die Deutschen trotz steigender Lebenserwartung kränker werden. Die moderne Welt kann den Menschen zwar zu einem längeren Leben verhelfen, aber nicht unbedingt zu einem gesünderen. Die Zahl der Menschen, die an Diabetes, Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden, nimmt trotz steigender Lebenserwartung weiter zu. Übergewicht, ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel sind einige der Faktoren, die dazu beitragen.

Ewiges Leben in der Cloud als Alternative?

Ewiges Leben ohne den Körper und die Erfahrung seines Verfalls ist auch das Ziel von Transhumanisten. Mensch und Maschine sollen für eine Optimierung miteinander verschmelzen und den menschlichen Körper und damit auch Krankheiten komplett überwinden – etwa indem Teile des Körpers durch Maschinen ersetzt werden und eines Tages auch das Gehirn auf einen Computer in der Cloud hochgeladen wird. Nach transhumanistischer Idee ist das eine Optimierung hin zum besseren Menschen.

Der Mensch müsse sich mit Technik verbinden, um in Zukunft mit einer fortschrittlichen Künstlichen Intelligenz mithalten zu können und um Unsterblichkeit zu erlangen. Diese prophezeit der Ex-Google-Ingenieur und Visionär Raymond Kurzweil bereits für 2030. Seiner Ansicht nach werden unsere technologischen und medizinischen Fortschritte bis dahin so weit sein.

Langes Menschenleben statt transhumanistische Unsterblichkeit

Ein ungewöhnlich langes und lebenswertes Leben haben die Menschen in den Blue Zones. Es ist nahezu das Gegenteil der von den Transhumanisten angestrebten Unsterblichkeit im digitalen Dämmermodus. Blue Zones sind fünf identifizierte Regionen in der Welt, wo überdurchschnittlich viele Hundertjährige leben. Wer sich jetzt großflächige Altersheime vorstellt, liegt komplett falsch. Die Menschen dort führen überdurchschnittlich lange ein aktives, glückliches und gesundes Leben.

Diese Zonen haben nicht etwa ein höheres Maß an technischer Optimierung oder sind bei der medizinischen Versorgung bessergestellt als andere Landstriche, sondern die Menschen dort leben die Facetten des Menschseins in offenbar lebensverlängernder Weise.

Wer nach einem erfüllten und gesunden Leben strebt und eine Art Blaupause dafür sucht, für den lohnt sich ein Blick zu diesen gut erforschten Regionen und ihren Bewohnern. Gleich vorab: Vor dem Computer sitzend mit Cola und Pizza, alles als Erfahrungen per Mausklick verfügbar über digitale Beschallung, oder gar eine transhumanistische Schnittstelle in das Gehirn gespielt zu bekommen – das alles ist nicht Teil dieses Patentrezeptes.

Wissenschaftlich erforscht: Die Entdeckung der Blue Zones

Der Begriff „Blue Zone“ wurde von dem Forscher Michel Poulain, einem promovierten Demografen, und Dr. Gianni Pes, einem sardischen Arzt und Forscher, entwickelt. Die beiden ermittelten eine Gruppe von Dörfern in Sardinien mit der höchsten Lebenserwartung und begannen, konzentrische Kreise auf die Landkarte zu zeichnen. Das Gebiet innerhalb des Kreises wurde als „blaue Zone“ bekannt.

Später taten sie sich mit dem Journalisten Dan Buettner zusammen und erweiterten den Begriff „blaue Zone“, indem sie vier weitere Gebiete mit hoher Lebenserwartung identifizierten: Okinawa in Japan, die Nicoya-Halbinsel in Costa Rica, die Insel Ikaria in Griechenland und die Kleinstadt Loma Linda in Kalifornien.

Ikaria, Griechenland: Die Insel Ikaria ist für ihre geringe Rate an Herzkrankheiten und Krebs bekannt. Die Bewohner leben im Einklang mit der Natur inklusive mediterraner Ernährung. Die Ägäisinsel hat eine der weltweit niedrigsten Sterblichkeitsraten im mittleren Lebensalter und die niedrigste Demenzrate.

Nicoya, Costa Rica: Die Halbinsel Nicoya zeichnet sich durch eine niedrige Sterblichkeitsrate und eine hohe Lebenserwartung aus. Die Menschen hier essen frische Lebensmittel und leisten viel körperliche Arbeit bis ins hohe Alter. Hier ist weltweit die zweithöchste Konzentration von männlichen Hundertjährigen.

Loma Linda, Kalifornien: Die Gemeinde der Siebenten-Tags-Adventisten hat eine hohe Lebenserwartung aufgrund ihres gesunden Lebensstils und ihrer starken sozialen Bindungen. Die Menschen hier leben durchschnittlich zehn Jahre länger als ihre nordamerikanischen Altersgenossen.

Okinawa, Japan: Die Insel Okinawa beherbergt die weltweit höchste Anzahl von Hundertjährigen. Die Okinawaner haben eine einzigartige Ernährung und Lebensweise, die zu ihrer Langlebigkeit beiträgt. Die Frauen über 70 sind hier die langlebigste Bevölkerung der Welt.

Sardinien, Italien: In den Bergdörfern Sardiniens finden wir die höchste Anzahl an hundertjährigen Männern. Die Bewohner leben in engen Gemeinschaften und führen ein Leben im Einklang mit der Natur.

Lebensweise vor Genetik

Bei der Entschlüsselung der Geheimnisse der Blue Zones haben Wissenschaftler bei ihren Forschungen festgestellt, dass die Langlebigkeit in diesen Regionen nicht allein auf genetische Faktoren zurückzuführen ist. Vielmehr sind es die Lebensweise, die Umgebung und die Gemeinschaft, die den Unterschied machen.

Das ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, das hat schon die sogenannte dänische Zwillingsstudie gezeigt: Der genetische Einfluss auf unsere durchschnittliche Lebenserwartung beträgt nur zehn Prozent. Auf Gene haben wir wenig Einfluss, auf unseren Lebensstil schon mehr.

Die Blue-Zone-Bewohner in diesen unterschiedlichen Regionen der Welt haben bestimmte Merkmale und Lebensgewohnheiten, die verbinden und sie gesünder und länger leben lassen, gemein. Doch was sind die Kriterien, die eine Region zu einer Blue Zone machen?

Klare Kriterien für ein langes Lebensglück

Zum einen ist es die Ernährung: In Blue Zones konsumieren die Menschen hauptsächlich pflanzliche Lebensmittel wie Gemüse, Hülsenfrüchte und Vollkornprodukte. Fleisch und verarbeitete Lebensmittel spielen kaum eine Rolle. Die Okinawaner essen zum Beispiel viel Gemüse, Tofu und Fisch und halten sich fast komplett von verarbeiteten Lebensmitteln fern. Mit ihrer „Hara Hachi Bu“-Regel, bei der sie aufhören zu essen, wenn sie zu 80 Prozent satt sind, vermeiden sie Übergewicht. Darüber hinaus essen sie ihre letzte Mahlzeit des Tages früh am Abend.

Immer in Bewegung: Die Bewohner der Blue Zones sind körperlich aktiv, sei es durch Gartenarbeit, Spaziergänge oder andere natürliche Formen der Bewegung. Gewichte stemmen in der Muckibude oder gar Leistungssport ist hier nicht zu finden, ebenso wenig wie langes Sitzen. In den Blue Zones leben die Menschen nicht in von Autos geprägten Umgebungen, sondern sind auf aktive Fortbewegung angewiesen. In Costa Ricas Blue Zone pflegen die Menschen ein besonders ursprüngliches, mit der Natur verbundenes Leben und arbeiten sogar bis ins hohe Alter körperlich.

Soziale Bindungen: Enge Gemeinschaften sind ein wesentlicher Bestandteil des Lebens in den Blue Zones. Menschen, die in solchen Umgebungen leben, fühlen sich weniger allein und empfinden auch weniger Stress. So sind es auf Sardinien die engen Familienbande, die zu einem langen Leben beitragen. Ganz praktisch heißt das, dass gemeinsame Mahlzeiten stattfinden und die Unterstützung innerhalb der Familie zur Alltagskultur gehört.

Zugehörigkeitsgefühl, sprich Teil eines sozialen Kreises zu sein, ist ein wichtiger Faktor für ein gesundes, glückliches und langes Leben, zumal, wenn in diesen gesunde Verhaltensweisen gefördert werden. In Okinawa zum Beispiel gibt es ein Konzept namens Moais, bei dem sich Gruppen von Freunden mit jeweils fünf Mitgliedern gegenseitig versprechen, ein Leben lang füreinander da zu sein.

Gutes Stressmanagement: Gemeinsames Merkmal der Menschen in den Blue Zones ist der Umgang mit Stress. Sie haben Strategien entwickelt, um diesem entgegenzuwirken, ob meditieren, beten, Zeit mit Freunden und Familie verbringen oder einfach Ruhephasen genießen. Im japanischen Okinawa gehört ein Mittagsschläfchen zu jedermanns Alltag.

Lebenssinn: Die Bewohner der Blue Zones haben klare Ziele und einen Lebenssinn, der ihnen hilft, durch schwierige Zeiten zu navigieren. Auch wenn die Religionen der einzelnen Gebiete unterschiedlich sind, verbindet sie der Glaube an eine höhere Macht. Das gibt Hoffnung, Sicherheit und ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Die meisten Blue-Zone-Bewohner gehören einer Religion an und besuchen im Durchschnitt viermal im Monat den Gottesdienst.

Mäßiger Alkoholkonsum: In den Blue Zones wird Alkohol in Maßen konsumiert, oft in Form eines Gläschens Rotwein, der mit vielen gesundheitlichen Vorteilen in Verbindung gebracht wird. Ja, tatsächlich, die Mehrheit der langlebigsten Menschen der Welt trinkt täglich Wein. Der Trick liegt hier im maßvollen Konsum: Sie beschränken sich auf ein bis zwei Gläser am Tag, die sie in guter Gesellschaft genießen.

Blaupause Blue Zones

Von der Lebensweise in den Blue Zones können wertvolle Lektionen abgeleitet werden. Im Vergleich zur durchschnittlichen Lebenserwartung in Industrienationen liefern die Blue Zones eine faszinierende Perspektive auf das Geheimnis eines längeren und gesünderen Lebens.

Hier kommt ein zweiter Aspekt ins Spiel, der in unseren modernen Industrienationen und ihren oft entfremdeten Lebensweisen in Vergessenheit gerät und verschwindet: Es gibt viel von den Älteren und von ihrer Erfahrung zu lernen. Und am Beispiel der Blue Zones speziell könnte man sagen:  Je älter sie werden, um so mehr scheint es sich zu lohnen, sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen.

Genau betrachtet kann ich mir auch einfach ein Beispiel an meiner Freundin nehmen, die von sich aus in ihrem Leben und Umfeld schon vieles implementiert zu haben scheint, was bei ganzen Gemeinschaften in den Blue Zones zu einem langen und gesunden und damit beispielhaften Leben führt.



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