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Gedicht des Tages

Am Karfreitage (Teil 2) – von Annette von Droste-Hülshoff

Aus der Reihe Epoch Times Poesie – Dass Annette von Droste-Hülshoff sich als professionelle Schriftstellerin sah, kann man spätestens ab 1834 erkennen.

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Akazienzweige mit vielen Dornen.

Foto: iStock

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Lesedauer: 2 Min.

Am Karfreitage (Teil 2)

Weiche Polster, seidne Kissen,
Kann mir noch nach euch verlangen,
Da mein Herr, so gar zerrissen.
Muß am harten Kreuze hangen?
O wie habt ihr ihn getroffen,
Dorn und Nagel, Rut‘ und Spieße!
Doch das Schuldbuch liegt ja offen,
Dass sein heilig Blut es schließe.

In der Erde alle Toten
Fahren auf wie mit Entsetzen,
Da sie mit dem heil’gen, roten
Blute sich beginnt zu netzen.
Können nicht mehr ruhn die Toten,
Wo sein köstlich Blut geflossen;
Viel zu heilig ist der Boden,
Der so teuren Trank genossen.

Er, der Herr in allen Dingen,
Muss die eigne Macht besiegen,
Dass er mit dem Tod kann ringen,
Und dem Tode unterliegen.
Gänzlich muß den Kelch er trinken,
Menschenkind, kannst du’s ertragen?
Seine süßen Augen sinken,
Und sein Herz hört auf zu schlagen.

Als nun Jesu Herz tut brechen:
Bricht die Erd‘ in ihren Gründen,
Bricht das Meer in seinen Flächen,
Bricht die Höll‘ in ihren Schlünden,
Und der Felsen harte Herzen
Brechen all mit lautem Knalle.
Ob in Wonne, ob in Schmerzen?
Bricht’s der Rettung, bricht’s dem Falle?

Und für wen ist denn gerungen
In den qualenvollen Stunden,
Und der heil’ge Leib durchdrungen
Mit den gnadenvollen Wunden?
Herz, mein Herz, kannst du nicht springen
Mit den Felsen und der Erde,
Nur, daß ich mit blut’gen Ringen
Neu an ihn gefesselt werde?

Hast du denn so viel gegeben,
Herr, für meine arme Seele?
Ist ihr ewig, ewig Leben
Dir so wert trotz Schuld und Fehle?
Ach, so laß sie nicht gefunden
Sein, um tiefer zu vergehen!
Lass sie deine heil’gen Wunden
Nicht dereinst mit Schrecken sehen!

 
Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848)
 

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