SERIE: 15 Irrtümer über Atomkraft – Teil 4
Atomkraftwerke (AKW) stellen in jedem Fall ein Sicherheitsrisiko dar. Es ist ein Irrtum zu glauben, es gäbe heute sichere Reaktoren. Ein Unfall kann noch immer in jedem AKW passieren. Die Überalterung der Kraftwerke führt dazu, dass das Unfallrisiko steigt.
Wie sicher ein bestimmtes AKW tatsächlich ist, hängt von vielen Faktoren ab. AKW sind mit unterschiedlichen Sicherheitssystemen ausgestattet. Modernere Typen umschließen den Reaktor mit einem so genannten Volldruck-Containment, einem riesigen stählernen Behälter, der vor Erdbeben, Sabotage und Flugzeugabstürzen schützen soll. Mit Schnellabschalt- und Notkühlsystemen versucht man Reaktorunfälle zu beherrschen. Doch kein Sicherheitssystem ist perfekt. Die Wahrscheinlichkeit eines schweren Unfalls, d.h. eines Kernschmelzunfalls, beträgt in der Praxis 10-3 bis 10-4 , das bedeutet alle 1.000 bis 10.000 Betriebsjahre. Demnach wäre bei derzeit 443 Atomkraftwerken weltweit ca. alle 20 – 25 Jahre mit einem Super-GAU zu rechnen.
Anhand des radioaktiven Inventars eines Reaktors und dem Wissen über beispielsweise vorherrschende Windrichtungen kann das Risiko für einen konkreten Ort in Europa abgeschätzt werden. Die gesundheitliche Gefährdung nimmt nicht gleichmäßig mit der Entfernung vom Ort der Katastrophe ab, da Wetterbedingungen bei der Verbreitung der „radioaktiven Wolke“ eine große Rolle spielen, wie das Beispiel Tschernobyl gezeigt hat. In 100 oder 200 km Entfernung können vergleichbar hohe Belastungen auftreten wie in 10 oder 20 km Entfernung. Bereits 1995 stellte eine Studie unter Berücksichtigung meteorologischer Faktoren eine Gefährdung Wiens fest, die deutlich über der aller anderen untersuchten Städte Westeuropas lag.
Sicherheitsrisiko alte AKW
Je älter ein AKW wird, desto stärker und unkalkulierbarer sind Verschleißerscheinungen am Material. Eine Verlängerung der geplanten Laufzeit eines AKW um 20 Jahre vermehrt zwar den Profit, stellt jedoch ein wesentlich höheres Sicherheitsrisiko dar. Das gilt auch für die oft parallel durchgeführte Erhöhung der Reaktorleistung durch die Verwendung eines neueren Nuklearbrennstoffs. Die meisten ältesten Reaktoren Europas stehen in Großbritannien (Dungeness A, Sizewell A, Oldburry). Diese wurden bereits 1965-1967 in Betrieb genommen. Aber auch AKW rund um Österreich sind bereits in den späten 60er bzw. 70er Jahren in Betrieb gegangen und die Betreiber streben dennoch Betriebsdauerverlängerungen an (s. auch Tabelle unten)!
Die größten AKW-Risiken der kommenden Jahre
Zum Alter der AKW kommen in der Bewertung unterschiedliche Kriterien wie Reaktortyp, Sicherheitssysteme und -management hinzu. Daraus erhält man eine Einschätzung der Gefahr, die von den AKW rund um Österreich ausgeht.
Die Schweizer AKW Beznau (1969/1971) und Mühleberg (1971) haben aufgrund ihres Alters ein hohes Sicherheitsrisiko. Dazu kommen Mängel im Sicherheitsmanagement.
Das AKW Gundremmingen (Block B, 1984), einer von sechs veralteten Siedewasser-Reaktoren Deutschlands, weist große Sicherheitsmängel auf. Das Risiko eines Austrittesvon radioaktiven Stoffen sowie von Kühlwasser ist bei diesem Typ besonders hoch. AmFreitag, den 10. Februar 2006, gaben die Kraftwerksbetreiber bekannt, dass künftig vermehrtso genannte Mischoxid (MOX-) Brennelemente verwendet werden sollen. Ein MOXBrennelemententhält rund 3,5 Prozent spaltbares Plutonium und dient quasi der Entsorgungeines Teils des hochriskanten Stoffes Plutonium. Aus physikalischen Gründen macht derEinsatz von MOX-Brennstoff aber den Reaktor instabiler und erhöht das Risiko, dass ein Unfallzur Katastrophe wird.
Eine Studie des Umweltinstituts München zeigt, dass bereits der Normalbetrieb des AKW Gundremmingen zu einer Erhöhung der Krebsfälle geführt hat. So ist die Kinderkrebsrate im Wohnumfeld von 15 km um das AKW signifikant erhöht. Das gilt auch für Isar 1 (1974) in Bayern. Dieser AKW-Standort ist durch Flugzeugabstürze besonders gefährdet. 1988 wäre es fast zu einer Katastrophe durch den Absturz eines Kampfflugzeuges gekommen.
In Biblis (Block A, 1974 und B, 1976) kam es aufgrund technischer Pannen immer wieder zur erhöhten Freisetzung radioaktiver Substanzen. Nach dem deutschen Atomkonsens ginge Biblis A 2007 vom Netz. Der Betreiber RWE denkt aber laut über einen Antrag zur Verlängerung der Laufzeit nach – und dies, obwohl Biblis A die schlechtesten Sicherheitsvorkehrungen aller deutschen Reaktoren hat. Beispielsweise haben Biblis A und B nicht einmal eine unabhängige und gebunkerte Notstandswarte. Auch für Biblis B stellten Studien erhebliche Mängel im Sicherheitssystem fest.
In Tschechien, nur 30 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt , stehen die Reaktorblöcke von Dukovany (1985-87). Bei diesen Druckwasserreaktoren WWER-440/213 sowjetischer Bauart fehlt ein Volldruck-Containment , das bei einem Unfall den Austritt von
Radioaktivität verhindern bzw. verzögern soll. Materialermüdung, Risse und Lecks sowie fehlender Schutz gegen Feuer und Flugzeugabstürze stehen im Widerspruch zur angestrebten Verlängerung der Laufzeit, die mit kontinuierlich durchgeführten „Modernisierungen“ erreicht werden soll. Das umstrittene AKW Temelin (2000) fällt immer wieder durch Vibrationen der Turbine auf, die zu einem steten Stop-And-Go-Betrieb nötigen, was wiederum das Unfallrisiko erhöht. Die Kombination von alter sowjetischer mit neuerer Technologie gilt auch unter Fachleuten als problematisch und entspricht nicht dem westeuropäischen Standard. Bei einem schweren Unfall mit Kernschmelze kann ein Austritt von radioaktivem Material durch die Bodenplatte nicht ausgeschlossen werden. Auch die Überprüfung auf Erdbebengefährdung ist nicht ausreichend und erfüllt nicht die Empfehlungen der IAEO.
Die beiden Reaktoren von Bohunice V1 (Slowakei) gelten als Reaktoren mit erhöhtem Betriebsrisiko, da diese zwei Reaktoren über kein Containment verfügen. Sicherheitsrelevante Systeme sind räumlich nicht immer hinreichend voneinander getrennt. Der Beitrittsvertrag mit der Europäischen Union beinhaltet die Verpflichtung für die Slowakei, die beiden älteren Druckwasser-Reaktoren von V1 in den Jahren 2006 und 2008 abzuschalten. Die Reaktoren von V2 hingegen werden modernisiert und weiterbetrieben (bis 2020). Die beiden laufenden Blöcke in Mochovce (Slowakei) sowie die nicht fertig gestellten Einheiten 3 und 4 sind ohne Vollcontainment. Besonders riskant ist der Mix von sowjetischer Technologie mit westlicher, den Siemens bei der Fertigstellung der ersten beiden Reaktoren vorgenommen hat.
Für den als unsicher geltenden Reaktor WWER-440/213 im ungarischen Paks hat die ungarische Regierung und das Parlament 2005 grünes Licht für eine Verlängerung der Laufzeit gegeben. Und dies, obwohl die Umweltverträglichkeitsprüfung noch nicht abgeschlossen ist, und es erst 2003 zu einem schweren Störfall mit Austritt radioaktiver Gase kam. Bei anschließenden Untersuchungen hat die IAEO Mängel in der Ausbildung des Personals und bei der Kontrolle durch die Aufsichtsbehörde ausgemacht.
In Bulgarien befinden sich in Kosloduj sechs Reaktoren der sowjetischen Baureihe WWER. Die beiden ältesten dieser Hochrisikoreaktoren (1 und 2) wurden 2002 stillgelegt.Die Europäische Union stellte in der „Agenda 2000 – Eine stärkere und erweiterte Union“ klar,dass Reaktoren des Typs WWER-440/230 „nicht auf das erforderliche Sicherheitsniveaugebracht werden können“. Für die Reaktoren 3 und 4 wurde eine Stilllegung vor dem Jahre2006 mit der EU vereinbart. Die Reaktoren 5 und 6 (1987) entsprechen dem Design desTemelin Reaktors (WWER 1000) und wurden mit Hilfe eines EURATOM- Kredits„sicherheitsverbessert“.
Fazit:
Bei allen heute weltweit betriebenen AKW sind schwere Unfälle mit radioaktiven Freisetzungen möglich, das Risiko steigt mit dem Alter, der Laufzeitverlängerung und Modernisierungsversuchen überholter Reaktortypen sowie fehlenden oder mangelhaften Sicherheitssystemen. Das „Restrisiko“ kann bei keinem laufenden Reaktor je ausgeschlossen werden, nur ein Atomausstieg ist tatsächlich sicher.
Das Alter der Reaktoren rund um Österreich
AKW Land Inbetriebnahme
Beznau 1,2 Schweiz 1969-1971
Mühleberg Schweiz 1971
Kozloduj 1,2 Bulgarien 1974/75
Biblis A Deutschland 1974
Neckar-Westheim 1 Deutschland 1976
Biblis B Deutschland 1976
Isar 1 Deutschland 1977
Bohunice V1 Slowakei 1978
Gösgen Schweiz 1979
Rivne 1,2 Ukraine 1980/81
Koszloduj 3,4 Bulgarien 1980-82
Krsko Slowenien 1981
Grafenrheinfeld Deutschland 1982
Paks 1,2 Ungarn 1982-84
Gundremmingen B,C Deutschland 1984/85
Bohunice V2 Slowakei 1984/85
Leibstadt Schweiz 1984
Dukovany 1-4 Tschechien 1985-87
Rivne 3 Ukraine 1986
Kozloduj 5,6 Bulgarien 1987
Paks 3,4 Ungarn 1986/87
Chmelnitzki 1 Ukraine 1987
Isar 2 Deutschland 1988
Neckarwestheim 2 Deutschland 1989
Cernavoda 1 Rumänien 1996
Mochovce 1,2 Slowakei 1998
Temelin Tschechien 2000
Chmelnitzki 2 Ukraine 2004
Weitere Informationen:
Silva Herrmann, Energiereferentin GLOBAL 2000
Informationen im WWW unter http://www.GLOBAL2000.at
Serien-Überblick
ROHSTOFF URAN
- Teil 1: Begrenzte Uranressourcen – die Lüge von der unendlichen Atomkraft
- Teil 2: Uranabbau – Rohstoff mit Umweltfolgen
- Teil 3: Uran – Waffenfähiges Material in Zeiten des Terrors
DIE TECHNOLOGIE
- Teil 4: Europas gefährlichste Reaktoren
- Teil 5. AKW Temelin: Traurige Geschichte von 100 Unfällen
- Teil 6: Milliarden Euro Steuergelder – Atomenergie kostet
- Teil 7: Atomforschung kassiert – Erneuerbare bleiben auf der Strecke
- Teil 8. Atomenergie kann das Weltklima nicht retten
- Teil 9: Weltweite radioaktive Verseuchung
- Teil 10: Atomstromimporte in atomfreie Staaten
ATOMMÜLL
- Teil 11: Atomare Verseuchung in Österreich: Damals und heute!
- Teil 12: Atommüllager rund um Österreich und weltweit
- Teil 13: Atommülltransporte und Wiederaufbereitung
- Teil 14: Die größten Atomunfälle: Von Hiroshima bis Tschernobyl
- Teil 15: Tschernobyl-Tag: Die Opfer der Tschernobylkatastrophe heute
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