„The Lancet“: Massive Übersterblichkeit durch Kälte geschickt versteckt

Jährlich sterben im Sommer Zigtausende Menschen in Europa. Stimmt, im Winter aber auch. Wie eine aktuelle Studie erneut zeigt, ist die Übersterblichkeit im Winter um Faktor zehn größer – wenn man genau hinschaut.
Hitze und Kälte führen beide zu Übersterblichkeit, jedoch bei weitem nicht im gleichen Ausmaß.
Hitze und Kälte führen beide zu Übersterblichkeit, jedoch bei Weitem nicht im gleichen Ausmaß.Foto: iStock
Von 26. Juli 2023

„Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“, soll Winston Churchill (1874–1965) gesagt haben. Ob das Zitat wirklich von dem ehemaligen britischen Premierminister und Literaturnobelpreisträger stammt, ist umstritten – der Inhalt nicht. Bis heute gibt es viele Beispiele, wo mit geschickter Auswahl von Daten beinahe alles bewiesen werden kann. Jüngster Vorfall: eine Veröffentlichung zur temperaturbedingten Übersterblichkeit im angesehenen Fachjournal „The Lancet“.

Darin untersuchen die Autoren um Dr. Pierre Masselot von der Londoner Universität für Hygiene- und Tropenmedizin die Auswirkungen der Temperaturen auf die Gesundheit in 854 Städten in Europa. Die zugrunde liegenden Daten sind in diesem Fall nicht das Problem, vielmehr ist die Präsentation der Daten irreführend. Die Details liegen wie so oft im Kleingedruckten – in diesem Fall in der Beschriftung der Diagramme.

Übersterblichkeit in der Studie korrekt erklärt, …

Masselot und Kollegen schreiben von Hitze und Kälte als „anerkannte umweltbedingte Risikofaktoren für die menschliche Gesundheit.“ Die Erfassung der damit verbundenen Gesundheitsbelastung sei aufgrund der Komplexität der Zusammenhänge und der Unterschiede in der Anfälligkeit und der demografischen Verteilung eine schwierige Aufgabe.

Im Rahmen ihrer „umfassenden Bewertung der Auswirkungen von Hitze und Kälte auf die Sterblichkeit in europäischen Städten“ haben sie städtische Gebiete in ganz Europa zwischen dem 1. Januar 2000 und dem 12. Dezember 2019 untersucht. Die Auswertung der „Temperaturrisiken über die Alters- und Raumdimensionen hinweg“ ergab „rohe und standardisierte Übersterblichkeitsraten für Hitze und Kälte […], die auf verschiedenen geografischen Ebenen aggregiert wurden.“

Vollkommen neutral schreiben die Forscher von schätzungsweise 203.620 Todesfällen im Zusammenhang mit Kälte und 20.173 mit Hitze. Daraus errechneten sie Übersterblichkeiten von 129 beziehungsweise 13 Todesfällen pro 100.000 Personenjahren. Es gibt also etwa zehnmal mehr Kälte- als Hitzetote.

Da davon auszugehen ist, dass die Zuordnung, ob jemand „an“ oder „im Zusammenhang mit“ bestimmten Temperaturen innerhalb der Studie einheitlich ist, ist die konkrete Auslegung in diesem Fall irrelevant. Sowohl die Definition von „Hitzetoten“ als auch, welche Rolle Städte dabei spielen, soll daher an dieser Stelle nicht hinterfragt werden.

… in den Diagrammen geschickt entfernt

Bezüglich der Übersterblichkeit gibt es sowohl geografische als auch demografische Unterschiede, so die Autoren. Die größten Auswirkungen zeigten sich dabei in osteuropäischen Städten, und zwar sowohl bei Kälte als auch bei Hitze. So weit der Text. Grafisch ist die Situation indes weniger klar:

Übersterblichkeit durch Hitze (links) und Kälte (rechts) in 850 europäischen Städten.

Übersterblichkeit durch Kälte (links) und Hitze (rechts) in 850 europäischen Städten. Foto: Masselot et al (2023); CC BY 4.0, Bearbeitung ts/Epoch Times

Wie die Studienautoren zuvor beschrieben, ist auf den in der Studie gezeigten Karten erkennbar, dass „Kältetote“ eher in den kühleren Ländern wie Großbritannien und vom Baltikum bis Bulgarien auftreten. Erstaunlicherweise ist das Phänomen in Portugal, Spanien und Italien stärker ausgeprägt als in Mitteleuropa. Ebenso unerwartet ist die eher geringe Übersterblichkeit durch Kälte in Skandinavien.

Auf der anderen Seite zeigt sich ein – den vorherrschenden Temperaturen entsprechender – geografischer Unterschied mit mehr Hitzetoten in Spanien, Italien und Griechenland sowie wiederum in den osteuropäischen Ländern bis hinauf ins Baltikum.

Nicht ganz so offensichtlich ist das Ausmaß der Übersterblichkeit. Je dunkler die Farben, desto mehr Todesfälle – könnte man meinen; wobei dunkelrot und dunkelblau ähnliche Größenordnungen signalisieren. Die Farbskalen darunter belehren eines Besseren: Dunkelrot sind in Wahrheit wesentlich weniger Fälle als blassgrün.

Der Teufel steckt im Detail

Noch undeutlicher werden die unterschiedlichen Todesfallzahlen in einer anderen Grafik, die die Auswirkungen von Hitze und Kälte nach Ländern aufschlüsselt:

Originalgrafik von Masselot et al. bezüglich der Hitze- und Kältetoten in Europa. Foto: Masselot et al (2023); CC BY 4.0

Nicht nur werden Länder und Ländergruppen (Nord-, Ost-, Süd- und Westeuropa) in derselben Grafik dargestellt, sondern auch die x-Achse einseitig verzerrt. Ersteres ist insofern verwirrend, da die Ländergruppen Durchschnittswerte enthalten, die bereits zuvor aufgeführten Länderdaten. Die Informationen sind also doppelt. Zudem sind die „Totale“ lediglich im Diagramm farblich, nicht aber in der Beschriftung hervorgehoben.

Gravierender ist jedoch die unterschiedliche Skalierung der Übersterblichkeit, zumal die nahezu gleichen Abstände, die Anzahl der angegebenen Werte und der identische Höchstwert die vermeintliche Einheitlichkeit noch verstärken. Dies ist definitiv irreführend und wird am Beispiel Kroatiens besonders deutlich: Die grafisch hervorstechende Übersterblichkeit bei Hitze beläuft sich in Wirklichkeit nur auf etwa ein Viertel der kältebedingten Todesfälle des Landes. Auch die vermeintliche Ausgewogenheit der Todesfälle in ganz Südeuropa ist eigentlich um etwa Faktor fünf verschieden.

Die Rohdaten im Anhang der Studie bilden die Übersterblichkeit ebenso verzerrt ab.

Dieselben Daten mit angeglichener x-Achse:

Hitze- und Kältetote in Europa nach Angleichung der x-Achse. Foto: Masselot et al (2023); CC BY 4.0, Bearbeitung ts/Epoch Times

In dieser Form wird klar sichtbar, in welchen Größenordnungen die Übersterblichkeit wegen Hitze tatsächlich liegt. Gleichzeitig wird jedoch auch deutlich, warum die Forscher sich für eine – wenn man genau hinschaut, erkennbare – Verzerrung der Daten entschieden haben. Andernfalls wären die Unterschiede innerhalb der Altersgruppen praktisch nicht erkennbar.

Als Schlussfolgerung bleibt: Die Forscher haben fachlich alles richtig gemacht. Sie haben sowohl die Daten genannt als auch die Diagramme korrekt und vollständig beschriftet. Wer jedoch nur einen oberflächlichen Blick (oder auch zwei) auf die Studie und die Grafiken wirft, erhält leicht einen falschen Eindruck.

Sinkende Übersterblichkeit: 20 Jahre „Klimawandel“ rettet knapp drei Millionen Menschenleben

Dass „The Lancet“ auch anders kann, beweist eine Publikation vom Juli 2021. In der nach eigenen Angaben größten Untersuchung der mit der Temperatur verbundenen (vermeintlichen) übermäßigen Sterblichkeit kamen 68 Autoren zu zwei eindeutigen Schlussfolgerungen: Einerseits sterben zehnmal mehr Menschen aufgrund von Kälte als aufgrund von Hitze. Die Ergebnisse von Masselot et al. bestätigen dies. Andererseits fanden die Forscher heraus, dass sich „temperaturbedingte Sterbefälle“ vor allem an mäßig heißen und mäßig kalten Tagen häufen.

„Wichtig ist, dass die kältebedingten Todesfälle von 2000 bis 2019 um 0,51 Prozent zurückgingen, während die hitzebedingten Todesfälle um 0,21 Prozent zunahmen, was zu einer Verringerung der Nettosterblichkeit aufgrund von Kälte und Hitze führte“, heißt es in der Studie.

Konkret habe die Erwärmung zwischen 2000 und 2019 insgesamt 3,1 Millionen Menschenleben vor kältebedingten Todesfällen bewahrt. Demgegenüber stehen 130.000 zusätzliche Todesfällen im Zusammenhang mit Hitze. Summa summarum hat der „Klimawandel“ damit in den vergangenen 20 Jahren weltweit netto fast drei Millionen Menschenleben gerettet.

Noch ein Fakt am Rande: Auf der Liste der wärmsten Länder der Welt steht Deutschland auf Platz 188 (von 217). Angeführt wird diese Liste von Burkina Faso mit einer Jahresdurchschnittstemperatur 2021 von 30,01 Grad Celsius. Am anderen Ende friert Grönland bei -17,56 Grad. Bezogen auf die 119 Länder mit Messwerten von Extremtemperaturen steht Deutschland auf Platz 16 – der kältesten Länder. Bei der Wärme belegen wir Platz 76.



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