Das Problemen von Prognosen: Warum Coronazahlen so schwer vorherzusagen sind
Wie schlimm wird es werden? Entspannt sich die Lage bald? Seit Monaten verfolgen viele Menschen Prognosen zum Verlauf der Corona-Pandemie. Manchmal treffen Forscher mit ihren Vorhersagen ziemlich ins Schwarze, manchmal liegen sie krass daneben. Denn der Blick Wochen oder Monate in die Zukunft hat seine Tücken.
So prognostizierte das Robert Koch-Institut (RKI) am 12. März für Mitte April eine bundesweite Inzidenz von 350 gemeldeten Infektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen. Als Grundlage wurde die sich rasch ausbreitende Corona-Mutante B.1.1.7 genutzt. Die Prognose trat nicht ein: Mehrere Tage nach Ostern, am 14. April, lag die Inzidenz laut RKI bei 153, am 10. Mai bei 119. Wieso lag sie so daneben? Und warum ist es so schwer, die Zukunft in einer Pandemie vorherzusagen?
Der Epidemiologe und Modellierer Ralph Brinks von der Universität Witten-Herdecke erklärt die Technik, die hinter einer Prognose steckt: Eine oder mehrere Annahmen werden in einem Modell zusammengefasst. Auf Basis des Modells wird der zukünftige Verlauf berechnet.
Für den Physiker und Daten-Wissenschaftler Cornelius Römer sind Corona-Prognosen wie Wettervorhersagen. Bei einem Ausblick auf das Wetter in vier Wochen wüssten die Menschen schon, dass dieser nicht genau sein kann, erklärt Römer. Bei einer Wettervorhersage über zwei Tage sähe es anders aus. „So sollten auch die Corona-Prognosen betrachtet werden“, rät Römer. „Das hilft den Leuten zu verstehen, wie verlässlich diese sind.“
Die Wissenschaftlerin Viola Priesemann entwickelt bei Corona-Prognosen eher „alternative Szenarien“. Die Leiterin einer Forschungsgruppe am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation erklärt:
Die Virusausbreitung lässt sich gut berechnen, wenn man annimmt, dass die Menschen ihr Verhalten nicht ändern. Das Verhalten ändert sich aber bekanntlich aus vielen Gründen.“
Es gibt auch Corona-Prognosen, die in einem gewissen Spektrum richtig lagen. In einem aktuellen Tweet etwa vergleicht Daten-Wissenschaftler Römer eine seiner Vorhersagen zur Inzidenz vom 21. März mit der eingetretenen Realität. Sein Modell lag Römer zufolge abgesehen vom Ostereffekt, als weniger getestet wurde, innerhalb eines 50-Prozent-Intervalls richtig. Dazu hat er folgende Effekte berücksichtigt: Impfungen, Saisonalität, B.1.1.7 und mögliche Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz.
Ein Team um Viola Priesemann hat im vergangenen Sommer in einer Publikation erfolgreich vorhergesagt, dass es einen Kipppunkt geben wird, an dem die Epidemie außer Kontrolle geraten kann, wenn die Zahlen so hoch steigen, dass die Gesundheitsämter nicht mehr hinterher kommen werden. Für Priesemann hat diese Arbeit „eine grundlegende Mechanik der Ausbreitung dargelegt“.
Römer kritisiert die Kommunikation des RKI
Das RKI analysierte Mitte März dagegen die reine Ausbreitung der Variante B.1.1.7: Bei der Prognose sei der Trend in die Zukunft fortgeschrieben worden, „den wir zuvor über acht Wochen stabil beobachtet haben“, erklärt Sprecherin Susanne Glasmacher. Dem RKI sei es Mitte März darum gegangen, das stetig exponentielle Wachstum der ansteckenderen britischen Variante B.1.1.7 zu betrachten. Und zwar ausschließlich das. Denn „in keinster Form sind bremsende Effekte aufgenommen worden“, sagt Brinks. Das dargestellte ungebremste exponentielle Wachstum bezeichnet der Epidemiologe deshalb als „unrealistisch“. Cornelius Römer kritisiert die Kommunikation des RKI. Man hätte klarstellen müssen: „Das ist keine realistische Prognose, die eintreten wird, sondern ein einfaches Modell, welches lediglich den Effekt der britischen Variante veranschaulicht.“
Schließlich kam es anders: Die Corona-Zahlen stiegen nach Ostern nicht so stark an wie erwartet. Ein Grund dafür sei gewesen, dass sich das Verhalten der Menschen geändert habe, andere Gründe seien der Impf-Fortschritt, das Testen und eventuell die Saisonalität gewesen, erklärt Priesemann. Für die Wissenschaftlerin sei es absehbar gewesen, dass die Kurve langsamer steigen würde als in den einfachen Szenarien vorhergesagt. Wie stark sie sich verlangsamt, sei dagegen schwer vorherzusagen gewesen, sagt Priesemann. So habe die Prognose des RKI selbst ihren Teil beigetragen, das Verhalten zu ändern. Das RKI verweist auf eine nachweisbar reduzierte Mobilität der Menschen über die Oster-Feiertage und -Ferien sowie geschlossene Schulen.
Wie schwierig der Verlauf der Covid-19-Pandemie vorauszusehen war, zeigt auch eine aktuelle Studie der Universität Cambridge. Forscher des Winton Centre for Risk and Evidence Communication befragten im April 2020 insgesamt 140 britische Experten Epidemiologen und Statistiker und über 2000 britische Laien. Sie sollten quantitative Vorhersagen über die Auswirkungen von Covid-19 bis Ende 2020 machen. Die Teilnehmer mussten dabei die obere und untere Grenze angeben, zu denen sie sich zu 75 Prozent sicher seien – etwa, dass die Gesamtzahl der Infektionen zwischen 300.000 und 800.000 liegen wird. Ergebnis: Die Experten lagen zu 44 Prozent richtig, die Laien nur zu 14 Prozent.
Bereits Ende Januar 2021 befasste sich das Essener RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung mit den Problemen von Prognosen. Die Experten kamen zum Schluss, dass Prognosen nur auf Basis des vorhandenen Wissens erstellt werden können. „Daher muss man immer annehmen, dass die Zukunft so verläuft wie die Vergangenheit“, heißt es in der Pressemitteilung. Das trete aber nicht ein, so das RWI: „Denn die Prognose selbst führt zu Verhaltensänderungen, damit unterscheidet sich die Zukunft von der Vergangenheit und die Prognose ist nicht mehr korrekt.“ (dpa)
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