Als die Geier starben, starben auch Menschen

Geier ernähren sich von Aas – viele Menschen denken bei diesen Vögeln deswegen an Tod. Eine Studie zeigt am Beispiel Indien, dass auch das Gegenteil gelten kann: Geier können Menschenleben schützen.
Einst gab es in Indien etwa 50 Millionen Geier, nun sind es unter 100.000 Vögel. (Archivbild)
Einst gab es in Indien etwa 50 Millionen Geier. Nun sind es unter 100.000 Vögel.Foto: picture alliance/dpa
Epoch Times18. Juli 2024

Es war ein Massensterben gewaltigen Ausmaßes: In den 90er-Jahren verendeten Millionen Geier in Indien – und niemand wusste zunächst, warum. Die wenigen überlebenden aasfressenden Vögel konnten ihre Rolle im Ökosystem nicht mehr ausfüllen. Eine Folge daraus zeigt eine neue Studie: Durch die herumliegenden Tierkadaver stiegen die Todeszahlen von Menschen an.

Geier seien besonders effektiv darin, von einem Kadaver nichts außer den Knochen übrig zu lassen – und somit die Verbreitung von Krankheitserregern effektiv zu unterbinden, schreiben Anant Sudarshan von der University of Warwick in Großbritannien und Eyal Frank von der University of Chicago in den USA.

Anhand von Bevölkerungsdaten berechneten sie, dass dieses Verschwinden der Geier zu jährlich mehr als 100.000 zusätzlichen Toten führte.

In Gegenden mit einer stabilen Geierpopulation bleibt ein Kadaver meist nicht lange unentdeckt. Die riesigen Vögel mit den spärlich behaarten Köpfen stürzen sich darauf, um ihre gebogenen Schnäbel ins Aas zu versenken. Lichtet sich das Gewimmel von Geiern, bleibt für andere Aasfresser nichts mehr übrig. Geier könnten eine komplette Kuh innerhalb von 40 Minuten vertilgen, schreiben die Autoren.

Mehr Straßenhunde, mehr Ratten, schlechteres Wasser

Andere Aasfresser wie etwa Straßenhunde und Ratten könnten die Geier in ihrer Funktion nicht ersetzen, denn sie lassen bestimmte Teile des Kadavers übrig und lösen somit das Problem der Entsorgung nicht.

Außerdem können sie Krankheiten wie Tollwut übertragen. Haben wegen des Geiersterbens diese Säugetiere mehr Futter zur Verfügung, steigt ihre Population an, und damit erhöhen sich die Gefahren für Menschen.

„Die Viehzucht wird ebenfalls zu einer Quelle der Wasserverschmutzung, wenn die Landwirte die toten Tiere selbst entsorgen müssen“, schreiben die beiden Autoren im Fachblatt „American Economic Review“ weiter.

Die Bauern warfen die zahlreichen Kadaver von Kühen und Rindern oft einfach in Flüsse und Seen, was weitere Krankheiten begünstige. Denn andere Wege der Entsorgung, wie etwa das Vergraben oder Verbrennen in Krematorien, seien für viele Menschen in Indien zu aufwendig oder zu teuer.

Jahrelang wusste niemand, warum die Geier starben

Das große Geiersterben in Indien begann im Jahr 1994. Ab diesem Jahr nutzten Landwirte für ihre Kühe und andere Nutztiere Diclofenac, ein starkes schmerz- und entzündungshemmendes Mittel.

Fraßen Geier später diese Tiere, in denen noch Spuren von Diclofenac waren, zerstörte das ihre Nieren – was die Vögel qualvoll sterben ließ. Die Zahl der Geier in Indien fiel von etwa 50 Millionen auf heute etwa Hunderttausend.

Erst 2004 wurde der Zusammenhang mit Diclofenac erkannt. Obwohl die Verwendung des Wirkstoffs für Nutztiere seit 2006 in Indien verboten ist, ist er weiterhin im Einsatz: Einige Bauern nutzen für Menschen gedachte Diclofenac-Mittel, um diese ihren Tieren zu geben. Ersatzmedikamente sind vorhanden und preislich vergleichbar, wirken aber langsamer.

Sudarshan, der in Indien aufwuchs, hat den Einbruch der Population selbst erlebt. „Als ich ein kleines Kind war, waren Geier überall. Und dann waren sie plötzlich verschwunden“, erinnert er sich.

Neun Geierarten gibt es in Indien, wobei die drei Arten, die einst besonders häufig vorkamen, heute als „vom Aussterben bedroht“ eingestuft werden. Nach Angaben von Sudarshan und Frank ist noch nie in der Menschheitsgeschichte eine Vogelart so schnell dezimiert worden.

Vergleich von Geier-Gebieten mit Nicht-Geier-Gebieten

Um die Auswirkungen auf Menschen zu untersuchen, schauten sich die beiden Forscher vor allem die Sterberaten in verschiedenen indischen Gemeinden in den Jahren 2000 bis 2005 an.

In Gebieten, die zuvor ein passender Lebensraum für Geier waren, stiegen die Todeszahlen nach dem Geiersterben an. Bei anderen Gebieten, in denen auch zuvor schon kaum Geier lebten, blieben die Todeszahlen stabil.

In den Geier-Gebieten errechneten die Autoren eine Zunahme der Sterbefälle um 4,7 Prozent. Damit kommen sie auf mehr als 100.000 zusätzliche Tote pro Jahr.

Da sie sich fünf Jahre genauer angeschaut hatten, steht ihre Bilanz am Ende bei mehr als einer halben Million zusätzlicher Sterbefälle. „Ehe es unsere Studie gab, wurde das Ausmaß des Problems nicht beziffert – wir wussten, dass es Gesundheitsrisiken gibt, aber wir hatten zuvor keine konkrete Zahl“, meint Sudarshan.

Milliarden Euro an Schaden

Der finanzielle Schaden durch diese Toten betrage fast 70 Milliarden Dollar (64 Milliarden Euro) pro Jahr, errechnen die Umweltökonomen. Diese Zahl halten sie für relevant, denn schließlich gehe es beim Artenschutz auch um die Frage, wie viel dieser kosten darf.

„Da sich das Problem nun als sehr groß herausstellt, lohnt es sich für Indien, mehr Geld in Geierschutz- und Wiederansiedlungsprogramme zu stecken, für die bisher nur sehr wenige Mittel zur Verfügung standen.“

Auch das massenhafte Errichten von Tierkrematorien, welche die Funktion der Geier übernehmen könnten, sei sehr kostspielig, fährt Sudarshan fort – aber günstiger als die Gesundheitskosten durch die Toten. Kosten und Nutzen lägen nun durch die Studie offen.

Auch andere Länder könnten daraus ihre Schlüsse ziehen, meint Sudarshan. Gerade in vielen Teilen Afrikas gebe es noch zahlreiche Geier, die ebenfalls der Gefahr ausgesetzt seien, durch Diclofenac zu sterben. „Unsere Studie ist also eine Warnung an die Entwicklungsländer, in denen es noch Geier gibt, schnell zu handeln.“

Derzeit würde jede Menge Geld ausgegeben, um besonders süße oder besonders prächtige Tiere zu schützen, ergänzt Sudarshan. Dazu gehörten Pandabären oder Tiger. „Wir sagen nicht, dass das schlecht ist, aber wir wollen darauf hinweisen, dass das Wohlergehen des Menschen mit dem anderer Arten in einer Wechselbeziehung steht.“ Es gebe einige Schlüsselarten im Ökosystem, die auch für die Gesundheit und Sicherheit der Menschen besonders zentral seien.

Diese gelte es zu identifizieren und dann so zu erhalten, dass sie ihre Rolle im Ökosystem weiter ausfüllen können. Dazu sollte auch bedacht werden, welche Auswirkungen Medikamente auf Tiere haben können, meint Sudarshan. „Unsere politische Empfehlung lautet, dass neue Chemikalien auf ihre Toxizität sowohl für den Menschen als auch für alle Schlüsselarten getestet werden sollten.“ (dpa/red)



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