Deutsche Forscher zeigen Hunderte Chemikalien in Europas Flüssen auf

Chemikalien können das Leben von Menschen retten oder verlängern. Gelangen sie jedoch ins Abwasser und somit in natürliche Gewässer, können sie Tieren schaden oder sie töten. Deutsche Forscher haben diese Gefahrenquellen nun in 22 europäischen Flüssen sichtbar gemacht.
Untersuchung eines Flusses auf Chemikalien
Forscher des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung haben 22 europäische Flüsse und 445 Proben auf Chemikalien untersucht. Die Ergebnisse sind zahlreich.Foto: iStock
Von 12. März 2024

Gelangen Chemikalien aus häuslichen Quellen über Kläranlagen, aus der Landwirtschaft und der Industrie in die Gewässer, wirkt sich dieser Eintrag nachweislich negativ auf die Süßwasserökosysteme aus.

Um mehr über die Belastung europäischer Flüsse herauszufinden, hat ein Forschungsteam des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) rund 450 Proben aus 22 europäischen Fließgewässern ausgewertet. Dabei fanden sie mehr als 500 Chemikalien – zum Teil in hohen Konzentrationen. Diese stellen insbesondere für wirbellose Tiere wie Schnecken, Muscheln oder Würmer ein hohes Risiko dar.

Die meisten Chemikalien in heimischem Fluss

Pflanzenschutzmittel, Industriechemikalien, Arzneimittel: Die meisten von ihnen sowie deren Abbauprodukte finden sich nach dem Gebrauch irgendwann in Bächen und Flüssen wieder. Ein Team von Umweltchemikern des UFZ hat deshalb 610 Chemikalien, deren Vorkommen oder problematische Wirkung bekannt sind, genauer betrachtet.

Die Forscher wollten wissen, ob und, wenn ja, in welchen Konzentrationen sie in den Fließgewässern Europas vorkommen, angefangen von großen Flüssen wie Elbe, Donau, Rhein über Ebro und Tajo bis hin zu kleineren Fließgewässern in landwirtschaftlich geprägten Regionen Deutschlands.

Das Ergebnis nach der Auswertung von 445 Proben aus insgesamt 22 Flüssen: Die Forscher konnten insgesamt 504 der 610 Chemikalien nachweisen. Insgesamt fanden sie 229 Pestizide und Biozide, 175 pharmazeutische Chemikalien sowie Tenside, Kunststoff- und Gummizusätze, Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS) sowie Korrosionsinhibitoren, sprich Rostschutzmittel.

In 40 Prozent der Proben wiesen sie bis zu 50 chemische Substanzen nach, in weiteren 41 Prozent zwischen 51 und 100 Chemikalien. In vier Proben fanden sie sogar mehr als 200 organische Mikroschadstoffe. Mit 241 Chemikalien stellten sie die meisten Substanzen in einer Wasserprobe der Donau fest.

Karte zur Belastung der europäischen Gewässer mit Chemikalien

Chemische Belastung europäischer Fließgewässer: Größe und Farbe der Kreise entsprechen der Anzahl der nachgewiesenen Substanzen pro Probenahmestelle. Foto: UFZ

Epilepsiemedikament für Fische

Am häufigsten fanden die Umweltchemiker in den Proben N-Acetyl-4-aminoantpyrin. Dieser Stoff ist ein Abbauprodukt des Arzneimittelwirkstoffs Metamizol, der bei der Schmerzbehandlung in der Humanmedizin eingesetzt wird. Über seine Auswirkungen auf Süßwasserökosysteme ist aber bislang kaum etwas bekannt.

„Bei zahlreichen dieser Metabolite ist unklar, wie schädlich sie für die Umwelt sind. Da fehlt uns noch das notwendige Wissen“, bringt es die UFZ-Umweltchemikerin Saskia Finckh und Erstautorin der Studie auf den Punkt.

Bei anderen Substanzen, die die Wissenschaftler in den Gewässern entdeckten, sind die negativen Auswirkungen dagegen bereits bekannt. Einer der häufigsten dieser Stoffe ist Carbamazepin, ein Arzneistoff zur Behandlung von Epilepsie. In Gewässern ist er biologisch schwer abbaubar, beeinträchtigt die Fortpflanzungsfähigkeit wirbelloser Tiere und verzögert die Entwicklung von Fischen. Der Stoff steht deshalb bereits auf der Beobachtungsliste des Umweltbundesamts (UBA).

Auch die Wirkung einiger anderer Substanzen, die ebenfalls oft in den Proben vorlagen, ist bekannt. Häufig fanden die deutschen Forscher beispielsweise die Insektizide Diazinon und Fipronil. Beide seien für wirbellose Wasserorganismen „sehr schädlich“. Insgesamt wurden bei mehr als 70 Chemikalien in den Gewässern die Risikoschwellen für Wirbellose überschritten. Demzufolge kann es bei anhaltendem oder wiederholtem Kontakt mit diesem Stoff etwa zu Entwicklungsstörungen kommen.

Chemikalien bieten geringe Chancen auf tierisches Leben

Viele der organischen Mikroschadstoffe sind bereits einzeln für Gewässer ein Problem. Allerdings kommt noch ein weiteres dazu: „Schwierigkeiten bereitet die Bandbreite der Chemikalien, die in die Gewässer eingetragen werden. Denn wir wissen noch viel zu wenig darüber, welche Wirkungen diese Stoffe haben, wenn sie sich miteinander vermischen“, erklärt Dr. Eric Carmona, Co-Autor und ebenfalls Umweltchemiker am UFZ.

Um die Wirkung dieser Mischungseffekte auf die in den Fließgewässern lebenden Organismen einschätzen zu können, nutzten die Forscher das Konzept des chemischen Fußabdrucks. Es ist ein quantitatives Maß für die Gefahr einer Beeinträchtigung der Wasserqualität. Konkret beleuchtet dies die Überlebenschance von Wasserorganismen wie etwa Fischen, Krustentieren und Algen an einem untersuchten Standort.

Berechnet wird der chemische Fußabdruck, indem die Konzentration einer Chemikalie an einem Standort ins Verhältnis zum erwarteten Effekt gesetzt wird. Anschließend werden die Werte für die nachgewiesenen Chemikalien addiert. Daraus ergibt sich für jede Organismengruppe ein wissenschaftlicher Grenzwert, bei dessen Überschreitung mit dem Verschwinden empfindlicher Arten aus dem Ökosystem gerechnet werden muss.

In 74 Prozent der untersuchten Proben werden jene Grenzwerte überschritten. Besonders hoch sei das Risiko für Krebstierchen. Bei 15 Prozent der untersuchten Standorte ist das Risiko für sie akut. Das heißt, dass für die Tiere die Überlebenschance an diesen Standorten im Gewässer gering ist.

Die Mischung macht das Gift

Die UFZ-Forscher folgern aus ihren Ergebnissen, dass in den europäischen Gewässern trotz vieler Verbesserungsmaßnahmen in der Vergangenheit immer noch zu viele Chemikalien vorkommen und an vielen Standorten Grenzwerte überschritten werden.

„Unsere Daten zeigen zudem, dass nicht nur einzelne Substanzen, sondern vor allem die Vielzahl der Substanzen zu diesem Problem beitragen“, so Saskia Finckh. Deshalb sei es notwendig, die chemische Gewässerüberwachung zu verbessern und auszubauen.

„Oft ist völlig unklar, welche Effekte Chemikalien in welcher Konzentration auf Organismen in den Gewässern haben“, ergänzt Eric Carmona. In diesen Fällen wird bislang auf modellbasierte Werte zurückgegriffen, die eine größere Unsicherheit als die gemessenen Effektwerte mit sich führen. „Und vor allem“, ergänzt Saskia Finckh, „sollten wir bei der Bewertung von Chemikalien ihre Mischungen stärker in den Fokus nehmen.“

Die Proben wurden zwischen 2016 und 2019 während verschiedener Kampagnen wie des Deutschen Kleingewässermonitorings (KGM), des Joint Danube Surveys 4 (JDS4) oder einer Elbe-Beprobung gesammelt.

Die Studie erschien im Januar 2024 im Fachblatt „Environment International“.



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