„Goodbye Jehova“ sagt ehemaliges Mitglied der „Zeugen Jehovas“
Mit dem frechen Titel „Goodbye Jehova“ legt Misha Anouk eine bemerkenswerte Chronik seines Lebens bei den Zeugen Jehovas vor und seines Ausstiegs. Ohne Zorn und Selbstmitleid, eher ironisch – wie der Titel – und analytisch. Bekannt wurde er schon 2009 unter seinem Geburtsnamen Mischa-Sarim Vérollet als Autor von „Das Leben ist keine Waldorfschule“, einem kurzweiligen Startup auf dem Büchermarkt.
Mischa-Sarim Vérollet wurde 1981 auf Gibraltar in „die Wahrheit“ hineingeboren. Der Vater, in London geboren und in Frankreich aufgewachsen, war ursprünglich katholisch. Die fränkische Mutter gehörte zu einer kleinen deutschen Jehova-Dynastie. Als Vollzeitpioniere versahen die Eltern von Misha Anouk mit missionarischem Eifer ihren Dienst für die einzige Wahrheit, um im Kreis der 144.000 „Gesalbten“ die Chance zu erhalten, gemeinsam mit Christus als Priester und Könige ein „Königreich“ zu formen, das die auf der Erde verbliebenen Menschen während einer „Tausendjahresherrschaft“ zur Vollkommenheit führen soll.
Vor Anbruch der „Endzeit“?
Rund 180.000 Menschen in Deutschland (und etwa acht Millionen Menschen weltweit, die meisten davon in den USA) legen sich für Gott und seinen Sohn Tag für Tag gewaltig ins Zeug. Zeugen Jehovas sind beseelt vom Glauben an den Weltuntergang – der „endzeitlichen Entscheidungsschlacht bei Harmagedon, in der Gott durch seinen Sohn Jesus Christus in der Gestalt des Erzengels Gabriel zusammen mit dem Engelheer das Weltsystem Satans beseitigen und durch das verheißene tausendjährige Friedensreich ersetzen werde“.
Den Anbruch der „Endzeit“ haben sie schon mehrfach durch konkrete Datierungsversuche vorherzusagen versucht, und zwar unter anderem für die Jahre 1914, 1925 und zuletzt 1975. Grundlage dieser Berechnungen ist eine fragwürdige Bibelauslegung, die auf einer verfälschten Übersetzung der Heiligen Schrift – der „Neue-Welt-Übersetzung“ – beruht. Mitglieder werden damit in einseitiger Weise geschult und manipuliert. Die Zeugen Jehovas selbst betonen dagegen, die Gemeinschaft zeichne sich dadurch aus, dass sich ihre Mitglieder gemäß ihrem freiwillig gefassten Entschluss nach der Lehre ihrer Religionsgesellschaft richten.
Durchschnittlich besuchen jeden Tag mehr als 1 Million Menschen die meist übersetzte Website der Welt, www.JW.org. In mehreren Hundert Sprachen kann man die Botschaften der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft der Zeugen Jehovas nachlesen, darunter u.a. in Aklanon, Bambaro, Chokwe, Dehu, Empero, Deku, Fataluku, Karif, Mapudungun, Totonakisch, Umbundu, Vezo, Wichi, Yapesion, Zarma.
Mit einer Auflage von über 50 Millionen pro Ausgabe ist Der Wachtturm die am weitesten verbreitete Zeitschrift weltweit, in 236 Ländern angeboten.
1881 gegründet
Die Zeugen Jehovas wurden ursprünglich als „Ernste Bibelforscher“ 1881 von dem Adventistenprediger Charles Taze Russell in Pittsburgh (USA) gegründet. Die zunächst lose Vereinigung machte Joseph Franklin Rutherford 1917 zu einer straffgeführten Missions-Organisation, die er 1931 in „Zeugen Jehovas“ umbenannte. An deren Spitze steht die Zentrale der „Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft“ in Brooklyn/New York.
In Deutschland wurde 1902 in Elberfeld bei Wuppertal ein erstes deutsches Zweigbüro eingerichtet, ab 1923 befand sich der Sitz der Vereinigung in Magdeburg. Unter den Nationalsozialisten wurden die Zeugen Jehovas verfolgt und 1933 verboten. Viele ihrer Anhänger kamen in Konzentrations-lagern um. 1945 gründete sich die Gemeinschaft in Magdeburg neu. In der DDR untersagte die SED aber die Tätigkeit zwischen 1950 und 1990. In den alten Bundesländern war ihr Verbot bereits nach dem Krieg aufgehoben worden. Seit 1979 befindet sich auf einem 65.000 qm großen Gelände die Deutschland-Zentrale „Bethel“ (Haus Gottes) vor den Toren von Selters im Taunus.
Eine der größten Druckereien Europas mit klösterlicher Zucht
Weltweit bekannt als Lieferant von Tafelwasser, sprudelt in der hessischen katholisch geprägten Kleinstadt auch eine ganz Quelle. Die Zeugen Jehovas drucken hier ihre Zeitschriften „Erwachet“ und „Wachtturm“ in Millionenauflagen. Hinter Maschendrahtzäunen leben und arbeiten mehr als 1.200 Mitglieder der Religionsgemeinschaft in einer der größten und modernsten Druckereien Europas.
Die Tage der sogenannten Vollzeitdiener der Zeugen Jehovas sind von klösterlichem Gleichmaß: morgens um sieben Versammlung zum Gebet, acht Uhr Arbeitsbeginn, vor dem gemeinsamen Mittagessen ein Gebet um exakt 12.10 Uhr, 13 – 17 Uhr Arbeit, abends Zusammenkunft der Gemeinde oder privates Bibelstudium. 24 Stunden Christ zu sein bedeutet, Zeuge Jehovas zu sein. Und deswegen gibt es kein Privatleben.
Täglich verlassen Lastwagen mit Broschüren und Büchern das Zentrum in Selters. Die Wagen sind graulackiert und tragen drei blaue Streifen, aber keinen Schriftzug. Am Rande des hessischen Selters haben die Zeugen Jehovas nicht nur ein hochmodernes Druckzentrum aufgebaut, sondern eine Art modernes Kloster, das sich fast komplett selbst versorgt. Dazu gehören Autowerkstätten, Tischlerei und Polsterei, Kantine und Friseursalon, Schuhmacherei und Arztpraxen, Verwaltungsgebäude und mehrstöckige Wohnhäuser.
Die Zeugen Jehovas beteiligen sich in Selters weder am Schützenfest noch am Erntedank, feiern weder Weihnachten noch Silvester und Ostern. Aus religiösen Gründen lehnen sie den Wehrdienst ab und beteiligen sich nicht an Wahlen. Ihren Geburtstag zu feiern, ist für Zeugen Jehovas tabu. Gott wünsche nicht, so glauben sie, dass sich ein Mensch in den Mittelpunkt stelle.
Keine Liebe – sondern Furcht
Es ist genau festgelegt, was in Bethel, einem „Gotteshaus“, erlaubt und was verboten ist. Unerwünscht ist beispielsweise sektenkritische Literatur. Wer raucht, wird aus der Gemeinschaft verstoßen. Und Kontakt zum anderen Geschlecht wird kritisch beäugt, soweit es nicht der eigene Ehepartner ist. So heißt es in einer unter Verschluss gehaltenen und nicht für die Öffentlichkeit gedachten Dienstanweisung unter dem Titel „In Einheit beisammen-wohnen“: „Es ist erforderlich, dass du die Zimmertür weit offenlässt, wenn du mit jemand vom anderen Geschlecht allein bist…
Man kann den Vergleich ziehen mit einem totalitären System, wo jeder jeden überwacht. Im Grunde braucht man dann gar keine Polizei mehr. Es ist aber dann keine Liebe, die die Menschen zusammenhält, sondern die Furcht.
Die Zeugen Jehovas verstehen sich als Konkurrenz zu den großen Kirchen. Sie sehen sich als die echten Christen: „Satan der Teufel ist der Vater jeder falschen Religion.“ Die „Gotteshäuser“ der Zeugen Jehovas heißen „Königreichssaal“, davon gibt es in Deutschland mehr als 1.000 (www.jehovaszeugen.de).
Erwachen für den Ausstieg
Zeugen Jehovas klingeln immer dann an der Tür, wenn die Chance besonders groß ist, jemanden zu Hause anzutreffen, also vorzugsweise um die Mittags-zeit am Wochenende. Werden sie abgewiesen, bleiben sie freundlich. Sie stehen bei Wind und Wetter an zugigen Bahnhofsecken, in Fußgängerpassagen oder vor Bahnhöfen, den „Wachtturm“ und das begleitende Magazin „Erwachet“ in den Händen.
Das öffentliche Predigen und Missionieren gehören zu ihren Pflichten, wie das tägliche Selbststudium der Bibel und die Besuche ihrer Zusammenkünfte im „Königreichssaal“, für gewöhnlich dreimal pro Woche. Sie stecken sehr viel Energie und Zeit in das Evangelisieren, das sie gemäß ihrer Selbstdarstellung als Alleinstellungsmerkmal ihrer Glaubensgemeinschaft ansehen – bis zu 40 Stunden pro Woche, neben ihren eigentlichen Berufen und den üblichen Pflichten und Diensten. „Insgesamt rund 3.300 Stunden Predigtdienst werden benötigt, um einen einzigen Menschen zu bekehren“, zitiert Misha Anouk aus einer Studie von zwei amerikanischen Sozialwissenschaftlern.
Misha Anouk, ab dem vierten Lebensjahr in Bielefeld aufgewachsen, lebt zurzeit in Wien, wo er als Blogger, Journalist, Poetry-Slammer, aber auch als „freier Berater für Sekten-Aussteiger“ arbeitet (www.mishaanouk.com). Seine Befreiung aus der obrigkeitshörigen Glaubensgemeinschaft ist extrem mutig. Er erkannte, dass sich viele Zeugen Jehovas völlig umsonst auf den Weltuntergang vorbereitet hatten, indem sie ihre Jobs kündigten, ihr Hab und Gut verkauften, um sich mit Vorräten einzudecken und dann in irgendeinem Kellerloch angstvoll auf Harmagedon zu warten.
Und als ihnen dann irgendwann klar wurde, dass die Welt weiterbestehen werde, lag im „Königreichssaal“ bereits ein „neues Licht“ aus der Zentrale vor – eine eilends aktualisierte Bibelauslegung, mit der man den Weltuntergang einfach wegerklärte. Inzwischen ist man in der Zentrale mit genauen Datumsprophezeiungen vorsichtiger geworden.
Ich wurde zum Beziehungsnomaden
Mischa Anouk, der in sehr jungen Jahren die Machtstrukturen erkannte, begann zu zweifeln. Ein Selbstmordversuch misslang. Mit 22 Jahren verliebt er und verlobt er sich. Im Herbst 2003 sollte die Hochzeit sein. Schuldgefühle quälen ihn. Die Verlobung wird aufgelöst; am 16. Dezember 2003 wird der 22-Jährige aus der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas ausgeschlossen. Er verlässt die elterliche Wohnung.
„Man verliert Gottes Segen. Am Heiligen Abend fühlte ich mich zum ersten Mal einsam. Es gab da diesen Moment an diesem Abend, in dem ich an meiner Entscheidung die Zeugen Jehovas zu verlassen, zweifelte. Gegen Mitternacht packte mich die Unrast. Ich stand auf, fuhr in einen Club und ließ mich volllaufen… An die ersten zwei Jahre nach meinem Ausstieg habe ich so gut wie keine Erinnerung. Ich verbrachte sie in einem permanenten, von meiner Außenwelt erstaunlicherweise unbemerkten Dämmerzustand.
Ich arbeitete mich einmal quer durch das Betäubungsmittelgesetz und fiel jede Nacht in ein Koma. Ich wechselte Freundinnen und Freundeskreise wie Profifußballer ohne Herz Vereine. Ich verletzte und wurde verletzt. Ich war wütend auf die Welt, auf meine Eltern, auf die Wachtturm-Gesellschaft. Und auf der Suche nach der nächsten Rechtfertigung für mein Selbstmitleid, den nächsten Beweis für die Schlechtigkeit der Menschheit, in der ich die Wurzel all meines persönlichen Übels sah, ging ich über emotionale Leichen und ließ auf meinem Weg von Mensch zu Mensch verbrannte Erde zurück. Ich wurde zum Beziehungsnomaden…“
Das Leben ist keine Waldorf-Schule
2005 wurde er von einem Paderborner Indie-Verlag entdeckt und unter Vertrag genommen, der die ersten seiner beiden Bücher veröffentlichte. 2008 dann bot ihm der Hamburger Jugendbuch- und Belletristik-Verlag Carlsen eine Veröffentlichung in ihrem Programm. Sein Kurzgeschichtenband Das Leben ist keine Waldorfschule wurde zu einem Überraschungserfolg und 2009 auf der Frankfurter Buchmesse als Kuriosester Buchtitel von der Branchenzeitschrift BuchMarkt ausgezeichnet. Inzwischen lebt Mischa Anouk verheiratet in Wien – er hat den Namen seiner Frau angenommen.
„Die Geschichte der Zeugen Jehovas ist die Geschichte einer riesengroßen Täuschung. Im Erscheinungsjahr dieses Buchs, 2014, jährt sich der angebliche Beginn der ‚letzten Tage’ des gegenwärtigen bösen Systems der bösen Dinge zum hundertsten Mal. Harmagedon lässt immer noch auf sich warten. So bewies die Wachturmgesellschaft im Königreichdienst vom August 2014, dass sie meisterliche Spin-Doctors hat: Aus 100 Jahre Irrtum und vergeblichem Warten auf Harmagedon wurde mit wenigen Handgriffen die Hundertjahrfeier von Jesu Christi Herrschaft. Der August sollte zu einem ganz besonderen Predigtdienstmonat werden. Mit dem Mut der Verzweiflung ist alles möglich…“
Misha Anouk
Goodbye Jehova
Taschenbuch: 544 Seiten
Verlag: rororo (24. Oktober 2014)
ISBN-10: 3499628910
Euro: 9,99
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