Erforschung bedrohter Sprachen Nepals liefert erstaunliche Erkenntnisse

Nepalesische und deutsche Wissenschaftler kombinieren Know-how aus drei Disziplinen, um ein Stück kulturelle Vielfalt zu erhalten
Titelbild
Vorbereitungen zur Aufnahme einer Erzählung: Prof. Dr. Martin Gaenszle und Prof. Novel Kishore Rai mit Dorfbewohnern in Chintang, Nepal. (Fotos: VolkwagenStiftung)
Epoch Times24. Februar 2007

Zur Volksgruppe der Puma und Chintang zählen nur noch wenige Tausend Menschen in Nepal. In ihren abgeschiedenen Dörfern im Süden der Everest Region haben sich ihre Sprachen bis heute erhalten, die meisten Erwachsenen beherrschen sie noch. Doch: „Es ist ungewiss, wie lange die Sprachen überdauern“, sagt Professor Dr. Balthasar Bickel vom Institut für Linguistik der Universität Leipzig. „Viele sind sich nicht bewusst, dass ihre Sprache wertvoll ist – und geben sie nicht mehr an ihre Kinder weiter.“ Sowohl das Puma als auch das Chintang sind bisher weder dokumentiert noch verschriftet, und sie drohen unwiederbringlich durch die Nationalsprache Nepali verdrängt zu werden.

Balthasar Bickel hat ein Team deutscher und nepalesischer Wissenschaftler um sich geschart, das sich seit fast vier Jahren bemüht, die vom Aussterben bedrohten Sprachen Chintang und Puma – und mit ihnen ein Stück kulturelle Vielfalt Nepals – vor dem Vergessen zu bewahren. Bei ihren Feldstudien vor Ort, von der VolkswagenStiftung im Rahmen der Förderinitiative „Dokumentation bedrohter Sprachen (DOBES)“ mit rund 750.000 Euro unterstützt, haben sie Erstaunliches herausgefunden.

Du beauftragtest oder du betragtaufest – Bedeutung bleibt dieselbe

So trafen sie bei den Chintang statt der „offiziellen“, durch eine Volkszählung ermittelten acht noch auf rund 6.500 Personen, die ihre Muttersprache fließend beherrschen. Aber auch die linguistischen Besonderheiten brachten die Forscher zum Staunen: „In den ersten Wochen der Feldforschung haben wir fast jeden Tag etwas entdeckt, das wir von keiner anderen Sprache der Welt kannten“, sagt Bickel. Eine der interessantesten Beobachtungen war, dass man im Chintang Teile von Wörtern frei verschieben kann. „Das ist so, als ob man im Deutschen anstatt ‚du beauftragtest’ auch mal sagen würde: ‚du betragtaufest’ oder ‚du aufbetragtest’ – stets mit exakt der gleichen Bedeutung.“ Bisher sei man in den Kognitionswissenschaften fest davon überzeugt, dass eine freie Verschiebbarkeit von Wortteilen die Grenzen des Menschenmöglichen sprenge und dass keine natürliche Sprache eine solche Flexibilität zulassen könne – das System würde dann zu komplex und die Einheit des Wortes als Speichereinheit in Frage gestellt. Hier zeigt sich eine neue Herausforderung für die Wissenschaft, denn: Die Konsequenzen dieser Entdeckung für linguistische und psychologische Theorien müssen noch detailliert untersucht werden.

Gruppenbild mit Kind: Die Frauen von Chintang im Osten Nepals.
Gruppenbild mit Kind: Die Frauen von Chintang im Osten Nepals.

Und auch das haben die Forscher herausgefunden: Beide Sprachen besitzen eine ungewöhnlich große Formenvielfalt: So gibt es beispielsweise für jedes Verb fast tausend verschiedene Varianten. Warum? Weil bei jeder Form zwingend Person und Zahl von Subjekt und Objekt angegeben werden muss. Auch weil es zwei Arten von „wir“ gibt – eines mit, eines ohne den Angesprochenen. Und weil stets drei Zahlenangaben einfließen: Einzahl, Zweizahl, Mehrzahl. Neben den drei Größen Tempus, Modus und Aspekt wird zudem Bejahung oder Verneinung ausgedrückt. Darüber hinaus werden die Verben regelmäßig um weitere Bestimmungen ergänzt – etwa: ob die Richtung einer Handlung nach oben oder nach unten weist, ob eine dritte Person Nutzen von der Aktion hat oder ob die Tätigkeit zielorientiert ist.

Bei Substantiven und Adverbien ist die Morphologie kaum weniger komplex. So haben Substantive des Puma 13 verschiedene Fälle – im Deutschen sind es gerade einmal vier. Diese Fälle drücken zum Teil Unterschiede aus, die in anderen Sprachen nur äußerst selten gemacht werden: Zum Beispiel lässt sich spezifizieren, ob die Angabe „beim Haus“ vom Standort des Sprechers aus gesehen oben oder unten liegt – in der bergigen Region des Himalaya eine wichtige Information. „Im Chintang sind wir auf nicht weniger als 18 Flexionsformen eines Adverbs gestoßen, die alle das deutsche Adverb „oben“ bezeichnen“, beschreibt Balthasar Bickel. Diese Formenvielfalt brachte es auch mit sich, dass die Standardsoftware, die Linguisten zur Analysehilfe einsetzen, zunächst immer wieder abstürzte. Das hat dazu geführt, dass das Forscherteam zuerst eine tiefgreifende Analyse der Formen durchführen musste, bevor mit der eigentlichen Dokumentation im großen Stil begonnen werden konnte.

Verblüfft waren die Forscher auch von der unerwartet großen kulturellen Vielfalt beider Sprechergemeinschaften. „Die Puma pflegen eine lebendige Erzähltradition mit einem großen Bestand an Mythen und Geschichten“, sagt der Ethnologe und Projektmitarbeiter Professor Dr. Martin Gaenszle von der Universität Wien. Zahlreiche Varianten der Ursprungsmythen, die auch bei anderen Volksgruppen bekannt sind, erzählen zum Beispiel von der Entstehung verschiedener Tiere und Pflanzen, der ersten Heirat, dem Hausbau oder vom Bierbrauen. Die Forscher fanden aber auch viele lokale Mythen. In ihnen wird etwa von der ersten Besiedlung der Region, von der Jagd und Problemen mit Wildkatzen oder Nachbarn berichtet. Solche Erzählungen sind es, die einen Einblick geben in die ansonsten kaum dokumentierte Geschichte der Region.

Filmaufnahmen beim Ablauf eines Opferrituals während des Wadhanmi-Festes in Chintang. Auch solche Filmaufnahmen helfen, eine bedrohte Sprache und die mit ihr verbundene Kultur zu dokumentieren.Filmaufnahmen beim Ablauf eines Opferrituals während des Wadhanmi-Festes in Chintang. Auch solche Filmaufnahmen helfen, eine bedrohte Sprache und die mit ihr verbundene Kultur zu dokumentieren.

Innerhalb der Sprachen gibt es Varianten, die nur von einigen Sprechern beherrscht werden. „So nutzen sowohl die Chintang als auch die Puma für ihre zahlreichen Bräuche – wie etwa Ernteopfer, Ahnenkulte oder Heilungsrituale – eigene Ritualsprachen, die nur wenige Spezialisten beherrschen“, erklärt Martin Gaenszle. Besonders auffällig an dieser Sprache, die insbesondere von Priestern und Schamanen eingesetzt wird, ist ihr Parallelismus: Statt einfacher Sätze verwenden die Sprecher analog konstruierte Doppelsätze, statt einfacher Nomina dominieren Doppelwörter. „Diese Art des Sprechens wird mit der mythischen Zeit der Ahnen assoziiert und gilt als besonders höflich.“

Ergänzend werfen zwei Forscherinnen in einem Teilprojekt einen Blick darauf, wie Kinder der Chintang ihre Sprache lernen. „Wenn man verstehen will, wodurch Sprachen gefährdet sind, muss man sich mit den Faktoren auseinander setzen, die ihr Erlernen beeinflussen oder behindern“, erklärt die Psycholinguistin Dr. Sabine Stoll vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Gemeinsam mit ihrer Kollegin, der Entwicklungspsychologin Professor Dr. Elena Lieven, arbeitet sie daran, ein großes Korpus von Kindersprache aufzubauen. Besonderes Augenmerk gilt der Frage, wie stark die Bezugspersonen des Kindes beim Sprechen Chintang und Nepali bereits vermischen und wie sich dieses auf die Sprachkompetenz des Kindes auswirkt.

Wie lernen Kinder die Sprache?

„Bisher weiß man zudem nur wenig darüber, ob die Mechanismen, die wir vom Erlernen europäischer Sprachen kennen, auch auf Sprachen mit völlig anderen grammatischen Strukturen zutreffen“, erklärt Stoll. Daher vergleicht sie die Sprachdaten der Chintang-Kinder mit denen von russischen und englischen Kindern. Die junge Forscherin hat sich bewusst drei Sprachen ausgesucht, die sich in grammatischer Struktur und Erwerbskontext größtmöglich voneinander unterscheiden. Mit Hilfe sprachwissenschaftlicher, ethnologischer und psychologischer Methoden möchte Sabine Stoll herausfinden, was den Erwerb der Sprache konkret beeinflusst. Finanziell unterstützt wird sie dabei von der VolkswagenStiftung im Rahmen eines auf fünf Jahre angelegten und mit 400.000 Euro dotierten „Dilthey-Fellowships“.

Die Vielfalt der Ergebnisse des umfangreichen Dokumentationsprojektes begeistert aber nicht nur das interdisziplinäre Forscherteam um Professor Balthasar Bickel – auch die Chintang und Puma zeigen sich angetan: „Nach zwei Tagen bei den Chintang kam ein Dorflehrer zu uns und zeigte uns eine Wortliste, aus der er später Schulmaterialien entwickeln wollte“, sagt Bickel. Die ersten Lehrbücher zu beiden Sprachen liegen mittlerweile vor. Die Puma-Sprecher gründeten zudem noch im Jahr 2004 eine eigene Kulturvereinigung.

Die Förderinitiative „Dokumentation bedrohter Sprachen“ (DOBES) wurde von der VolkswagenStiftung zur Jahrtausendwende eingerichtet. Ziel der Initiative ist es, in ihrer Existenz bedrohte Sprachkulturen so weit elektronisch aufzuzeichnen, dass spätere Forschergenerationen anhand des dokumentierten Materials noch die ganze Sprache beschreiben können. Die Daten aller geförderten Dokumentationsprojekte werden im zentralen DOBES-Archiv am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen gesammelt, wo sie künftigen (Forscher-)Generationen zur Verfügung stehen.

(VolkwagenStiftung/jel)



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