Endoxie – Paradigmenwechsel geistiger Erfahrung
Die Etymosophie–Kolumne von Roland R. Ropers erscheint wöchentlich exklusiv in der EPOCH TIMES Deutschland.
Wir leben in einer Welt voller rätselhafter Widersprüche. Unter einem Paradoxon (griech.: παράδοξον) versteht man einen Lehrsatz, welcher der allgemeinen Lehre sonderbar entgegensteht. Ganz schlimm wird es, wenn man sich einer Orthodoxie unterwirft, einer vermeintlichen Rechtgläubigkeit.
Auch in der Orthopädie (griech.: όρθιος aufrecht) und παιδεία (Erziehung) wird vieles falsch gemacht. Die urteilsfreien Gesetzmäßigkeiten finden in unserem Innersten ihre verlässliche Entsprechung und benötigen der endoxen Erfahrung, die verstandesmäßig nicht zu begreifen ist.
Die Spaltung zwischen Denken und Sein ist ein universales menschliches Phänomen, weil unsere Ratio immer wieder den Zugang zu unserem innersten Universum versperrt. Der geistige Weg strebt nicht danach, das Sein zu denken, sondern es sein zu lassen, um die unbegreifliche Wirklichkeit zu erkennen. Wenn der Mönch wahrhaft in Kontemplation versunken ist, weiß er nicht, dass er betet; die Leere der echten Beschauung ist sicherlich nicht der Gedanke der Gedankenlosigkeit; die Reflexion tötet die Spontaneität der wirklichen Kontemplation (griech.: Theorie), das reine Schauen ohne Objekt. es gibt weder einen Denkenden noch ein Gedachtes. Das Sein, die unsterbliche Essenz unseres Lebens, manifestiert sich, entfaltet sich, drückt sich auf eine Weise aus, der das Denken nicht folgen kann. Auf diesem Wege kommen wir in den Zustand von Endoxie, einer inwendigen Lehre und Leere zugleich, die nicht verstandesmäßig artikulierbar ist.
Es gibt eine Ausstrahlung des Seins, die nicht vom Denken eingeholt werden kann, über die nicht reflektiert werden kann, weil keine Wiederholung möglich ist. Die Bewegung der gedankenfreien Kontemplation verläuft in umgekehrter Richtung zu der Bewegung des Denkens. Es ist nicht so, als würde ich, der Meditierende, über etwas nachdenken, selbst wenn dieses Etwas die unendliche Offenheit des Universums wäre; es ist auch nicht so, dass ich das Denken zu überwinden versuche, indem ich seine Grenzen überspringe oder sprenge. Die Bewegung der gedankenlosen Beschauung ist genau umgekehrt: Sie geht vom Mysterium aus, vom Sein selbst. Der Betende spricht nicht, er horcht, bis er reines Gehorchen wird. Er lässt den Strom des Geheimnisses (der Liebe, der Gnade, des Wissens, des Lichtes, des Seins,) durch sich hindurchfließen. Doch Vorsicht! Eine solche Beschauung darf nichts schauen. Wenn das der Fall wäre, dann würde das Geschaute das Schauen bestimmen und so nicht nur dem Schauen seine Freiheit rauben, sondern ihm auch ein Objekt geben und somit einen Gegenstand des Denkens. Die reine Betrachtung betrachtet nichts; mehr noch: sie betrachtet nicht. Es gibt kein Objekt, aber auch kein Subjekt, kein Zugrundeliegendes, keinen Punkt, von dem aus man betrachten könnte, keinen Grund, sondern nur den Urgrund des innersten Universums.
Das Leben der Natur vollzieht sich in Zyklen – kreisförmig im Wechsel von Frühling (Geburt), Sommer (Jugendkraft), Herbst (Reife) und Winter (Tod). Der Mensch will sich gegen diesen Kreislauf aufbäumen und hat sich eine illusionäre lineare Entwicklung als Richtschnur zurechtgelegt. Das ist ein geradezu tragisches Verhängnis.
Als 212 v. Chr. ein römischer Soldat die von Archimedes von Syrakus in den Sand gezeichneten Kreise zerstörte, sagte der berühmte Mathematiker und Physiker: „Noli turbare circulos meos!“ (Zerstöre meine Kreise nicht!)
Wenn wir heute von „circa“ reden, hat dies mit „circum“ (im Kreis herum) zu tun. Und dann sprechen wir von „ungefähr“ (= ohne Gefahr). Wer sich zyklisch im Leben fortbewegt, befindet sich stets am Anfang und Ende zugleich. Er ist stets „ohne Gefahr“.
Das Geheimnis der Endoxie, der „inwendigen Lehre“, gipfelt in der Erkenntnis: „Sicut erat in principio et nunc et in saecula saeculorum!“ („Wie es war im Anfang, so auch jetzt und allezeit bis in die in Ewigkeit!“)
Im 12. Kapitel des „Tao Te King“ schreibt Lao Tse:
„Die fünf Farben machen das Auge blind.
Die fünf Töne machen das Ohr taub.
Die fünf Geschmacksarten machen den Gaumen unempfindlich.
Rennen und Jagen machen den Geist verrückt.
Schwer zu erlangende Güter verwirren das Herz.
Deshalb ist der Weise für den Bauch
und nicht für das Auge.
Er lässt das eine und zieht das andere vor.“
{R:2}Der Religionsphilosoph Roland R. Ropers ist Autor und Herausgeber etlicher Bücher:
Was unsere Welt im Innersten zusammenhält: Hans-Peter Dürr im Gespräch mit bedeutenden Vordenkern, Philosophen und Wissenschaftlern von Roland R. Ropers und Thomas Arzt; 2012 im Scorpio Verlag
Eine Welt – Eine Menschheit – Eine Religion von Bede Griffiths und Roland R. Ropers
Gott, Mensch und Welt. Die Drei-Einheit der Wirklichkeit von Raimon Panikkar und Roland R. Ropers
Die Hochzeit von Ost und West: Hoffnung für die Menschheit von Bede Griffiths und Roland R. Ropers
Geburtsstunde des neuen Menschen. Hugo Makibi Enomiya-Lassalle zum 100. Geburtstag von Roland R. Ropers
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