„Alphabet“ – Angst oder Liebe verändern das Denken

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Wie müssen sich Gesellschaften entwickeln, damit Kinder unbeschwert lernen und ihre Kreativität entdecken können, fragt Erwin Wagenhofer in "alphabet"Foto: Cover Ecowin Verlag Salzburg
Von 12. Juni 2014

„98 Prozent aller Kinder kommen hochbegabt auf die Welt. Nach der Schule sind es nur noch 2 Prozent.“ Diese Aussage war für den österreichischen Dokumentarfilmer Erwin Wagenhofer der Anlass, sich in dem Projekt  „alphabet“  zwei Jahre lang dem Thema Bildung zu widmen. Auch im Buch zum Film, will er Mut machen, das Alte loszulassen, aus unserem selbst gewählten Gefängnis hinauszutreten durch die bereits geöffneten Türen, um dem Neuen zu begegnen, das auf uns wartet.

Erwin Wagenhofer hatte im Jahr 2008 den sensationellen Kinofilm „Let’s Make Money“ produziert und stellte sich danach die Frage: „Wie ernähren wir uns geistig?“ Die Idee zu dem Projekt „alphabet“ war nicht, Bildungssysteme miteinander zu vergleichen oder gar zu bewerten, sondern von einem nicht mehr tauglichen Ist-Zustand die Zuschauer und Leser auf eine Reise einzuladen, deren Ziel es ist, in Bewegung zu kommen, um selbst die ersten Schritte zu tun.

Die Zeit ist reif für Veränderung unserer Denkweisen. Wir werden neue Begriffe und Definitionen finden müssen, statt „Erziehung“ kann „Beziehung“, statt „Profit“ kann „Wert“, statt „Angst“ kann „Liebe“ stehen. Erwin Wagenhofer und seine Co-Autorin Sabine Kriechbaum sprechen von einem neuen Haltungsalphabet.

Nach Ansicht des indischen Mediziners und Bestsellerautors Deepak Chopra gehen uns täglich ca. 60.000 Gedanken durch den Kopf. 95 Prozent der Gedanken, die wir heute haben, sind mit den gestrigen identisch. Der Mensch ist demnach ein Bündel konditionierter Reflexe, mit denen er in voraussehbaren biochemischen Reaktionen und Verhaltensmustern auf äußere Reize reagiert.

Was in kleinen, nahezu unbeachteten Kreisen längst gefordert und diskutiert wird, dringt und drängt durch Menschen wie Erwin Wagenhofer an die Öffentlichkeit und damit ins öffentliche Bewusstsein. Die Welt verändert nicht, wer die Wirtschaft ankurbeln, das Bruttosozialprodukt steigern oder Geldströme lenken kann.

[–Menschen an die Schalthebel und nicht biologische Funktionsmaschinen–]

Die Welt wird verändert, indem das Denken der Menschen auf eine andere Ebene gehoben wird. Indem Menschen dazu gebracht werden, inne zu halten und ihr wirken und ihre Werke „von außen“ zu betrachten.

Dazu liefern dieses Buch (und der Film) wunderbare Anregungen. Das Denken der Menschen zu verändern, gehört zu den schwierigsten Aufgaben überhaupt und war doch noch nie so einfach wie heute in unserer Medien- und Informationskultur – vorausgesetzt, man setzt Menschen an die Schalthebel und nicht biologische Funktionsmaschinen, die, wie dieses Buch es aufzeigt, zu Millionen „herangezüchtet“ werden und deren extremste Vertreter in unserem Mainstream-Establishment bejubelt und gefördert werden.

Erwin Wagenhofer meint es ernst. Er zitiert den britischen Bildungsforscher Sir Ken Robinson: „Wir haben diese außergewöhnliche Kraft, damit meine ich die Kraft der Vorstellung. Jede Ausformung menschlicher Kultur ist die Folge dieser einzigartigen Fähigkeit. Doch ich glaube, dass wir sie systematisch in unseren Kindern zerstören. Denn wir akzeptieren blind gewisse Vorstellungen über Erziehung, über Kinder, darüber, was Ausbildung bedeutet, über gesellschaftlichen Bedarf und Nutzen, über wirtschaftliche Zweckmäßigkeit.“

Für seine Betrachtung von Bildungssystemen im Zeichen der Globalisierung hat Wagenhofer neben Robinson viele weitere prominente Experten befragt. Darunter ist der deutsche Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther, ein vehementer Kritiker des steigenden Leistungsdrucks in den Schulen; der ehemalige Lufthansa- und Daimler-Benz-Manager und jetzige Telekom-Personalvorstand Thomas Sattelberger, der Absolventen von Wirtschafts-studiengängen als „geföhnte Bubis und Barbie-Puppen im Business-Look“ kritisiert; der Pädagoge Arno Stern, der Kindern seit 30 Jahren in seinem „Malort“ in Paris die Möglichkeit zur Kreativität ohne Druck gibt; und sein Sohn André, Gitarrist, Komponist und Gitarrenbaumeister, der nie eine Schule besucht hat.   

Wagenhofer lässt wie seine Protagonisten keinen Zweifel daran, dass Bildungsanstalten schlecht mit Kindern umgehen. Als krasses Beispiel dient ihm der erste Halt auf seiner Reise durch die Schulen der Welt: China. Muster-Pisa-Kandidat, immer an der Spitze der Rankings der OECD. Trauriger Nebeneffekt: Der Primus verzeichnet auch die höchste Selbstmordrate überforderter Schüler, wie der chinesische Erziehungswissenschaftler Yang Dongping anmerkt.

Seit der Einführung der Marktwirtschaft sei das Bildungssystem in China von Konkurrenzdenken, Auswendiglernen und dem Bestehen der vielen gefürchteten Prüfungen und Schulwettbewerbe geprägt. Raum für kreatives Denken, eigene Ideen und Erholung gebe es dagegen nicht. Dongping: „Unsere Kinder gewinnen am Start – und verlieren am Ziel.“

[–„Wir müssen anders leben!“–]

Was China im Extrem exerziert, macht laut Wagenhofer auch in den Ländern der EU vielen Kindern die Schule zur Hölle. Der Leistungsdruck steige ständig, Schüler seien lediglich Teil einer wirtschaftlichen Verwertungskette. Ecken und Kanten, ein eigener Kopf und das Hinterfragen von Handlungsmaximen seien nicht gefragt. Stattdessen Anpassungsfähigkeit, bedingungsloses Erfüllen von Vorgaben, Konkurrenzdenken.

Unser Schulsystem funktioniere immer noch wie im 19. Jahrhundert, als Menschen nicht ihr Potenzial ausschöpften, sondern an den Maschinen der immer noch zunehmenden In­dus­t­ri­a­li­sie­rung funktionieren sollten, kritisiert Gerald Hüther.

Die Zahl der ADHS-Patienten steigt enorm und damit der Bedarf an Medikamenten, der die Zappelphilipps mit ihrem Aufmerksamkeitsdefizit mit und ohne Hyperaktivität ruhigstellen soll. 1993 wurden in Deutschland lediglich 34 Kilo verkauftes Ritalin registriert, 2010 waren es 1,8 Tonnen (!). Allein in Deutschland schlucken 700.000 Kinder die Anti-Zappel-Pille. Sie selbst und/oder ihre Eltern kommen mit den Ausbildungsansprüchen der Gesellschaft nicht mehr zurecht.

Man spürt die Leidenschaft, mit der Wagenhofer versucht, die Globalisierung diesmal noch grundsätzlicher zu fassen. Wenn er mit „Alphabet“ nicht in die Niederungen tagesaktueller Bildungsdiskussionen hinabsteigt, dann deshalb, weil das Thema ihm hier als Vehikel dient, um Fragen zu stellen, die in seinen vorangegangenen Filmen schon unausgesprochen im Raum standen.

Fragen, die angesichts unserer so alternativlos erscheinenden Gegenwart fast unanständig wirken: Wenn der Kapitalismus, wie er ihn hier wieder beschreibt, ein System der Angst ist, das freie Entwicklung schwierig bis unmöglich macht – was könnte dann das Gegenmodell sein? Wie müssen sich Gesellschaften entwickeln, damit Kinder unbeschwert lernen und ihre Kreativität entdecken können?

„Wir müssen anders leben!“ Diese Dringlichkeit macht sein Werk aus. Damit setzt er sich von der Katastrophen-Dramatik ab, der manche seiner Kollegen erliegen, und wird zum Quälgeist, denn verantwortlich ist für ihn nicht das System, sondern jeder Einzelne. Die Forderung nach einer eigenen Haltung hat er nie drängender gestellt als in „alphabet“.

Foto: Cover Ecowin Verlag Salzburg

Erwin Wagenhofer

alphabet

Ecowin Verlag Salzburg,

Herbst 2013

216 Seiten – € 19,95



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