Stagflation: Schreckgespenst oder Kopfgeburt?
Wenn eine hohe Inflation mit einer anhaltenden Stagnation der Wirtschaftsaktivitäten und eine hartnäckig hohe Arbeitslosigkeit eine unheilvolle Liaison eingehen, sprechen Ökonomen von einer Stagflation.
Das Fachwort wurde in den 1970er-Jahren nach der ersten Ölkrise von 1973 populär. Damals resultierte die hohe Inflation, die 1974 in den USA mit 12,3 Prozent ihren Höhepunkt erreichte, aus einem negativen Angebotsschock bei Energierohstoffen, allen voran Öl. Zudem geriet die Nachfrage in den Industrieländern am Ende des Nachkriegsbooms ins Stocken.
Gibt es aktuell Anzeichen für ein Déjà-vu?
„In den letzten Wochen war eine mögliche ‚Stagflation‘ ein prominentes Thema bei Diskussionen mit unseren Kunden“, heizte die US-Großbank JP Morgan in einer neuen Studie die Diskussion an. „Die aktuelle Lage ist eine völlig andere“, meint hingegen Olivier de Berranger, Chief Investment Officer beim französischen Vermögensverwalter LFDE. Er betrachtet die weltweite Nachfrage als sehr stark – insbesondere in den Industrieländern. Genau in diesem positiven Nachfrageschock bei einem vorübergehend eingeschränkten Angebot aufgrund der Folgen der Corona-Krise sieht er die Ursache für die Inflation.
„Überdies lässt sich bei einem weltweiten Wachstum, das für 2022 auf 4,5 Prozent geschätzt wird und in diesem Jahr knapp sechs Prozent erreichen wird, wohl kaum von Stagnation sprechen“, unterstreicht Berranger. Dazu trägt bei, dass die Pandemie in manchen Teilen der Wirtschaft überwunden scheint. Während die Beschäftigung und der Stellenbestand hierzulande zuletzt über dem Niveau vor Ausbruch der Krise lagen, prognostizierte das Kieler Institut für Weltwirtschaft Ende September ein Wachstum des deutschen Bruttoinlandsprodukts von 5,1 Prozent für das kommende Jahr.
Gebrochene Lieferketten treiben Preise in die Höhe
Auch wenn der viel beachtete ifo-Indikator im September zum dritten Mal in Folge zurückging, trifft die Silbe „Stag“ im Wort „Stagflation“ im aktuellen Umfeld offensichtlich nicht zu.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass es mit Blick auf die Wirtschaftsaktivität keine Sorgen gibt. Der Höhepunkt des Aufschwungs dürfte bereits hinter uns liegen. Zudem könnten die Engpässe in den weltweiten Produktionsketten zunächst in China und anschließend in den Industrieländern die Nachfrage belasten. Bereits jetzt haben viele Firmen große Probleme, an Vorleistungen zu kommen, weil globale Lieferketten durchbrochen sind und erhebliche Engpässe nach sich ziehen.
Laut der KfW-Umfrage kämpft knapp jedes zweite der 3,8 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland mit Lieferengpässen. Besonders groß ist diese Herausforderung angesichts des akuten Mangels an LKW-Fahrern in Großbritannien. Selbst die Güter, die es trotz der unterbrochenen Lieferketten gibt, erreichen nicht mehr die Regale und Tankstellen müssen schließen.
Sollte diese prekäre Situation andauern und auch auf andere Länder übergreifen, ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Weltbank ihre Wachstumsprognosen für das kommende Jahr nach unten anpassen muss.
Überdies gibt es Schwachstellen wie zum Beispiel der chinesische Immobilienmarkt mit seinem Sorgenkind Evergrande. Der Immobilienriese kam mehreren Zahlungsverpflichtungen nicht nach. Nun scheint es auch noch bei anderen Firmen aus der Branche zu Liquiditätsengpässen zu kommen.
Preissteigerungen bei wichtigen Rohmaterialien bis weit in 2022
Besondere Beachtung verdient der zweite Teil des Begriffs, der sich auf die Inflation bezieht. Die Niveaus der 1970er- und 1980er-Jahre liegen zwar in weiter Ferne, doch im September stiegen die Preise ersten Prognosen zufolge um 4,1 Prozent – so viel wie seit 1993 nicht mehr.
Zudem ziehen die Erzeugerpreise weiterhin ungebremst an, was durch den jüngsten Anstieg bei den Energiepreisen zusätzlich verstärkt wird. Die europäische Energiepolitik ist gänzlich gescheitert. Noch bevor der Winter Einzug hält, sind die Preise für Gas, Kohle und Elektrizität förmlich explodiert.
Derweil stellen sich einige deutsche Industrieunternehmen darauf ein, dass sich die Preissteigerungen bei wichtigen Rohmaterialien und Vorprodukten bis weit in das kommende Jahr 2022 hinein fortsetzen. Dies zeigt eine Umfrage der Einkaufsberatung Inverto unter rund 100 Managern und Einkaufsverantwortlichen. Danach rechnen drei Viertel der Befragten in den kommenden 18 Monaten mit moderaten oder starken Preissteigerungen bei Vorprodukten.
„An der ein oder anderen Stelle ist die Versorgung mit Vorprodukten tatsächlich gefährdet“, gab Lars-Peter Häfele, Managing Director bei Inverto, gegenüber dem Handelsblatt zu bedenken.
Diese Gemengelage könnte zu einer Preisspirale führen: 26 Prozent der von der Kreditanstalt für Wiederaufbau aktuell befragten Mittelständler sehen sich gezwungen, ihre Preise aufgrund der gestiegenen Kosten anzupassen. Nur fünf Prozent erwarten eine Entspannung bis zum Jahresende.
Der Vergleich mit den 1970er-Jahren hinkt
Ihren Tribut in Form von höheren Teuerungsraten dürften auch die Immobilienpreise fordern, die beispielsweise in den USA im vergangenen Jahr um fast 20 Prozent gestiegen sind. Zu schweigen von den höheren Mieten, die besonders stark ins Gewicht fallen.
„Der Anstieg der Inflation ist struktureller Natur“, resümiert Steen Jakobsen, Chefökonom der Saxo Bank. Die von den Entscheidungsträgern hochgehaltene Idee, der Anstieg sei temporär, sei naiv. „Sie werden nun von der Realität eingeholt. Noch im Juni sagte US-Finanzministerin Janet Yellen, dass sich die Inflation bis Ende des Jahres normalisieren werde. Mittlerweile ist auch sie zur Ansicht gelangt, dass die US-Teuerung Ende des Jahres eher bei vier Prozent liegen dürfte.“
Während die Inflation also bereits Realität ist, erscheint die Ausrufung der Stagflation für viele Ökonomen verfrüht – zumal der Vergleich mit den 1970er-Jahren hinkt. Damals zeigte sich die Konjunktur in schwacher Verfassung, flankiert von starken Gewerkschaften, die die hohen Preise in hohe Löhne verwandeln konnten, sodass eine inflatorische Spirale entstand. Diese sogenannten Zweitrundeneffekte dürften nun ausbleiben.
Karen Dynan vom Peterson Institut in Washington bringt die Lage vor diesem Hintergrund so auf den Punkt: „Wenn das Wirtschaftswachstum über dem langfristigen Trend liegt, kann man das kaum als Stagflation bezeichnen.“
Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, hält angesichts der Lage in Deutschland dagegen: „Mit Blick auf das Winterhalbjahr kann man von einer Stagflation sprechen.“ Er kann sich vorstellen, dass bei der Inflationsrate im November sogar eine Fünf vor dem Komma stehen könnte. Gleichzeitig prognostiziert er, dass sich für die deutsche Autoindustrie im vierten Quartal aufgrund von Materialengpässen und nachlassender Nachfrage aus China „sogar eine Stagnation“ abzeichne. Für die USA hält indes auch er den Terminus Stagflation für weniger angemessen, weil die Commerzbank dort ein Wachstum von drei Prozent im vierten Quartal dieses Jahres erwartet.
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