Ökonom warnt: Abgabensystem in Deutschland bremst Arbeitsbereitschaft

Lohnerhöhungen bedeuten in Deutschland in der Regel noch höhere Steuern und Abgaben. Das führt dazu, dass Arbeitnehmer immer weniger Lust auf mehr Arbeit verspüren, meint der Ökonom Friedrich Heinemann – und warnt vor einem Mangel an Arbeitskräften.
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Prof. Friedrich Heinemann empfiehlt dem Staat, den Gürtel enger zu schnallen, um Anreize für Mehrarbeit zu schaffen.Foto: Anna Logue
Von 14. April 2023

„Die Faulen werden in Deutschland belohnt, die Fleißigen bestraft“, meint der Ökonom Prof. Friedrich Heinemann – und fordert ein Gegensteuern in der Steuer- und Abgabenpolitik. Heinemann forscht zum Thema öffentliche Finanzen am Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim.

Arbeitgeber fordern „Mehr Bock auf Arbeit“

Damit reagiert der Wirtschaftsexperte auf die Forderung der Arbeitgeber, dass Deutschland dringend umdenken müsse. Im Interview mit der Digitalplattform „Table.Media“ hatte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, von den Arbeitnehmern „mehr Bock auf Arbeit“ eingefordert. Eine gute Work-Life-Balance „bekommt man auch mit 39 Stunden Arbeit in der Woche hin“, meint Kampeter.

Deutschland sei in der Vergangenheit stets produktiver und innovativer als viele Wettbewerber gewesen. So habe das Land sich eine Wertschöpfung gesichert. Nun aber müsse man das „Geschäftsmodell Deutschland“ wieder neu aufstellen. Steffen Kampeter bezog sich mit seinen Äußerungen vor allem auf die seit Jahren stattfindenden Diskussionen über die Reduzierung der Arbeitszeit bei gleichem Lohn.

Beschäftigte haben kaum Anreiz zur Mehrarbeit

Der Ökonom Friedrich Heinemann sieht die Schuld der zunehmenden Arbeitsunlust in Deutschland dagegen nicht bei den Arbeitnehmern, sondern beim Staat. „Lohnerhöhungen werden in Deutschland mit derart hohen Zusatzabgaben belastet, dass vielen Beschäftigten schlichtweg der Anreiz fehlt, länger zu arbeiten“, sagte Heinemann in der „Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)“.

Schuld an dieser Schieflage gibt er der Struktur des deutschen Abgabesystems. Während sich Fiskus und Sozialkassen beim Grundgehalt noch zurückhielten, würde jeder zusätzliche Euro mit den sogenannten „Grenzabgaben“ belastet. Der Begriff meint jenen Betrag an Steuern und Sozialabgaben, der auf Lohnerhöhungen fällig wird.

Solche Grenzabgaben belasteten Durchschnittsverdiener in Deutschland massiv, erklärte Heinemann. Wenn ein alleinstehender Arbeitnehmer in der Industrie eine Lohnerhöhung von 100 Euro verhandelt habe, blieben ihm lediglich 41 Euro im Portemonnaie. Der Staat kassiere die restlichen 59 Euro über Steuern und Sozialabgaben. Damit lägen die Grenzabgaben bei fast 60 Prozent. Wenn der Arbeitnehmer seine Gehaltserhöhung direkt ausgebe, werde er erneut durch die Mehrwertsteuer belastet: Am Ende blieben nur noch 33,21 Euro übrig.

Deutschland bei Grenzabgaben international vorn

Im Vergleich zu anderen Ländern liege Deutschland damit an der Spitze der Grenzabgaben. Laut einer Auswertung der OECD betrage die Grenzabgabe in den USA 41 Prozent und in der Schweiz sogar nur 32 Prozent.

Aufgrund der massiven Belastung durch den Staat entschieden sich viele Deutsche für Freizeit statt für Mehrarbeit, was sich auch in der durchschnittlichen Jahresarbeitszeit widerspiegele. Diese liegt laut NZZ in Deutschland bei 1.349 Stunden, dem niedrigsten Wert in den OECD-Ländern. Im Gegensatz dazu arbeiteten Beschäftigte in der Schweiz (1.533 Stunden) und den USA (1.791 Stunden) deutlich länger.

Heinemann warnt davor, dass das Abgabensystem schwerwiegende Folgen für die deutsche Wirtschaft nach sich ziehen könnte. Es existiere bereits heute ein Mangel an Arbeitskräften im Handwerk, in der Industrie und im Gesundheitssystem. Das rigide Abgabensystem verschärfe das Problem, weil es für Arbeitnehmer keine Anreize setze, länger zu arbeiten. Tausende Beschäftigte spielten sogar mit dem Gedanken, kürzer zu arbeiten, da sich Mehrarbeit für sie nicht auszahle. Laut einer Umfrage für die HDI-Versicherung aus vergangenen Jahr würden 48 Prozent der Vollzeitbeschäftigten lieber Teilzeit arbeiten, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten.

Deutsche möchten im Schnitt 32,8 Stunden in der Woche arbeiten

Die Versicherung hatte für die „HDI Berufe-Studie 2022“  3.891 Erwerbstätige in Deutschland befragt. Die Bindung an Job und Unternehmen, so das Ergebnis, nehme vor allem bei jungen Beschäftigten zugunsten einer angestrebten verbesserten „Work-Life-Balance“ signifikant ab. War etwa 2020 für 69 Prozent der Berufstätigen unter 25 Jahren „ein Leben ohne Beruf nicht vorstellbar“, waren es in der letzten HDI-Befragung nur noch 58 Prozent.

„Besonders junge Berufstätige in Deutschland streben den Ergebnissen unserer Studie zufolge vehement nach mehr Freiräumen im Beruf. Sie wollen mitbestimmen, wo, wann und wie lange sie arbeiten. Ihre Vorstellungen weichen dabei deutlich von den tradierten Arbeitsmodellen ab. Die Corona-Erfahrungen haben diese Einstellungen offenbar stark befördert“, kommentierte Christopher Lohmann, der Vorstandsvorsitzende von HDI Deutschland, damals die Studie.

Der Wunsch nach weniger Arbeit ist aber nicht nur eine Forderung der jungen Generation. Laut einer Erhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (F.A.S.), über die der „Focus“ berichtete, wünschen sich die Menschen in Deutschland so niedrige Arbeitszeiten wie noch nie seit Beginn der Erhebung im Jahr 1985. Selbst wenn sie dafür auf Gehalt verzichten müssten, möchten sie im Durchschnitt nur noch 32,8 Stunden pro Woche arbeiten. Vor zehn Jahren lag die Wunsch-Arbeitszeit noch bei 34,4 Stunden pro Woche. Die Daten stammen aus dem sozio-ökonomischen Panel aus dem Jahr 2020, welches jährlich rund 30.000 Personen befragt.

Laut F.A.S. möchten Männer aller Altersgruppen immer kürzer arbeiten, ebenso wie Frauen bis zum Alter von 59 Jahren. Eine Ausnahme bilden Frauen ab 60 Jahren, die im Durchschnitt 26,3 Stunden pro Woche arbeiten möchten – ein Wert, der nahe am Rekordhoch liegt.

Fachkräfte könnte deutsche Unternehmen härter treffen als internationale Wettbewerber

Dass die Deutschen immer weniger arbeiten möchten, stellt die Wirtschaft vor ein großes Problem. Nach Ansicht der Chefin der Bundesagentur für Arbeit (BA), Andrea Nahles, wird der Fachkräftemangel deutsche Unternehmen härter treffen als internationale Wettbewerber. „Der Arbeitsmarkt verändert sich in Deutschland stärker als in anderen Ländern, weil wir ein massives demografisches Problem haben“, sagte Nahles im Februar.

„Der deutsche Arbeitsmarkt verändert sich von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmer-Arbeitsmarkt“, fügte sie hinzu und betonte, dass Fragen der Work-Life-Balance neu ausgehandelt werden müssen, ähnlich wie ihre Generation die Verteilung der Arbeit zwischen Frau und Mann in Familien neu ausgehandelt habe. „Aushandeln heißt aber auch an die jüngere Generation gerichtet: Arbeit ist kein Ponyhof.“

Heinemann: Staat sollte Gürtel enger schnallen

Für Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim steht fest, dass das Problem des fehlenden Anreizes für Mehrarbeit nur gelöst werden kann, wenn der Staat schmerzhafte Einschnitte bei seinen Einnahmen wagt. Er müsse „den Gürtel enger schnallen“, empfiehlt der Ökonom. Dazu müsse die Verwaltung genau prüfen, welche öffentlichen Ausgaben wirklich notwendig seien. Dadurch könnten Arbeitnehmer stärker entlastet und Anreize für Mehrarbeit geschaffen werden.

Allerdings scheine es angesichts des bisherigen wirtschaftspolitischen Kurses der Ampelregierung unwahrscheinlich, dass sie auf Einnahmen verzichten wolle, glaubt Heinemann.



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