„Nearshoring“: Bulgarien wird zum Zielort großer EU-Konzerne mit Angst um Lieferkette
Die Zeiten, in denen Vorstellungen von einem modernen Industrieland Bulgarien in hiesigen Breiten noch Schmunzeln auslösten, sind vorbei. Mit einem geschätzten Plus von 1,4 Prozent im laufenden Jahr liegt das reale BIP-Wachstum des Landes deutlich über dem erwarteten EU-Durchschnitt von 1,0.
Dazu kommt, dass immer mehr namhafte Unternehmen mit Produktionsstätten und Logistikzentren in dem Land präsent sind. Das „Handelsblatt“ berichtet, dass sich allein am Rand von Plovdiv mehr als 200 Unternehmen in den vergangenen Jahren in der „Trakia Economic Zone“ gesiedelt hatten.
Immer mehr Produktionsstandorte großer Unternehmen in Bulgarien
Zu den klingenden Namen, die man dort antrifft, gehören der Nahrungsmittelkonzern Ferrero ebenso wie Kaufland, Würth, ABB oder Logistikriese Gebrüder Weiss. Nun ist den Angaben der Gründer des Komplexes, Plamen Panchev und Valentin Kanchev, zufolge sogar eine Megafactory von VW geplant. Ein 300 Hektar großes Grundstück sei dafür bereits reserviert. Eine offizielle Bestätigung aus Wolfsburg gibt es allerdings noch nicht.
Obwohl Bulgarien mit einem BIP pro Kopf von 12.400 Euro im Jahr 2022 weiter am unteren Ende der EU-Mitgliedstaaten rangierte, hat das Land beim Export deutlich aufhorchen lassen. Der Auslandshandelskammer (AHK) in Sofia zufolge stieg 2022 das Exportvolumen nach Deutschland um 26,8 Prozent auf 16 Milliarden Euro.
Im Gegenzug nahmen die Importe aus der Bundesrepublik um 19,1 Prozent auf 12,1 Milliarden Euro zu. Die immer bedeutendere Rolle von Tochterunternehmen und Zulieferern europäischer Großkonzerne in Bulgarien spielt dabei eine bedeutende Rolle.
„Nearshoring“ als Gebot der Stunde
In der Fachwelt heißt das Phänomen „Nearshoring“. Dieses wurde vor allem seit der Corona-Pandemie immer mehr zum Thema. Die Lockdowns, geschlossene Grenzen, Ereignisse wie die Havarie der „Ever Given“ oder der Brand in der Renesas-Chipfabrik in Japan oder der Ukraine-Krieg haben die Verletzbarkeit der Lieferketten offengelegt.
Um Lieferausfälle, lange Wartezeiten oder kriegsbedingte Umwege zu minimieren, wollten viele Konzerne auf Nummer sicher gehen. Deshalb entstehen Produktionsstätten im näheren Ausland – und Bulgarien bietet neben der EU-Zugehörigkeit noch eine weitere Erleichterung. Eurostat zufolge betragen die Arbeitskosten pro Stunde umgerechnet nur 8,20 Euro. In Deutschland liegen sie fast beim Fünffachen.
In Zeiten europaweit einbrechender Reallöhne ist in einer solchen Situation auch die Fallhöhe geringer. Dazu ist die wirtschaftliche und demografische Dynamik in Europa weit hinter jener vieler asiatischer und afrikanischer Länder angesiedelt. Dies bedeutet, dass Investoren möglicherweise auch keinen raschen Anstieg des Lohnniveaus befürchten müssen, wie er in manchen der dortigen Länder zu beobachten war.
Günstige Verbindungen in Nachbarländer und Schwarzmeerregion
Der Ukraine-Krieg hat zudem die Bedeutung Bulgariens als Transportweg deutlich gesteigert. Da Russland und die Ukraine weitgehend als Routen für Warentransporte aus der EU und in diese ausfallen, gewinnt die Westseite des Schwarzen Meeres an Bedeutung.
Bulgarien liegt verkehrstechnisch günstig. Von Plovdiv in der Mitte des Landes ist Istanbul nur 400 Kilometer entfernt, Thessaloniki nur 300, Burgas nur 250. Von dort aus ist beispielsweise Georgien über das Schwarze Meer zu erreichen.
Der Weg über Bulgarien und das Schwarze Meer öffnet angesichts der kriegsbedingten Transportprobleme auch den Weg in die Länder des Kaukasus und Zentralasiens. So wird das bisherige Armenhaus der EU immer mehr zur eurasischen Handelsdrehscheibe.
Bulgarien stark von Zuwendungen durch die EU abhängig
Attraktiver für ausländische Investoren wird Bulgarien auch durch den niedrigen Umsatzsteuersatz von zehn Prozent. Dazu kommt der angestrebte Beitritt zum Schengen-Raum, der allerdings bislang noch von einigen Mitgliedstaaten des Abkommens blockiert wird. Bis 2025 will Bulgarien auch Teil der Eurozone sein.
Zu einer der größten Herausforderung in Sachen Infrastruktur gehört in den kommenden Jahren der Bau der Autobahn von Sofia nach Varna. Dazu sind die Fertigstellung des Kresna Gorge Tunnels auf der Strecke zwischen der Hauptstadt und Thessaloniki sowie die Modernisierung des Flughafens in Sofia geplant.
Allerdings ist das Land bezüglich der Finanzierung des Infrastrukturausbaus stark von der EU und deren Zuwendungen abhängig. Unter dem Banner des „Aufbau- und Resilienzplans“ kann Bulgarien auf Zuschüsse in Höhe von insgesamt 6,27 Milliarden Euro hoffen. Diese sind für 56 Investitions- und 47 Reformprojekte vor allem in den Bereichen Energiewende und Digitalisierung gedacht. Zudem sind für den Haushalt 2021 bis 2027 insgesamt Mittelzuweisungen von 17,9 Milliarden Euro vorgesehen.
Furcht vor Abwandern der Industrie in die USA oder nach China
Im Gegenzug zu der offensiven Förderpolitik ist jedoch davon auszugehen, dass Brüssel weitreichende Mitsprache in internen Angelegenheiten des Landes beanspruchen wird. Dies schlägt sich schon jetzt in wenig ausgeprägter politischer Stabilität nieder.
Dazu kommt ein ausgeprägtes Korruptionsproblem. Einer Umfrage der Deutsch-Bulgarischen Industrie- und Handelskammer vom Juni zufolge sei diese allgegenwärtig. Nicht weniger als 84 Prozent aller ausländischen Unternehmen nannten Korruption als Problem. Dazu kommt eine Inflationsrate von über 13 Prozent. Ebenso fürchtet man in Bulgarien vielfach um den Bestand der deutschen Industrie, insbesondere der Autoindustrie.
Die hohen Energiekosten und politischen Vorgaben machen die USA und China im internationalen Standortwettbewerb attraktiver. Je mehr EU-Unternehmen ihre Produktion dorthin verlagern, umso mehr gerät auch Bulgarien als potenzieller Standort unter Druck.
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