Insolvenzwelle rollt heftiger als prognostiziert

Im ersten Halbjahr 2024 verzeichneten große Unternehmen in Deutschland einen deutlichen Anstieg der Insolvenzen, insbesondere in der Immobilien- und Automobilzuliefererbranche. Damit sind die Zahlen auf den höchsten Stand seit fast einem Jahrzehnt gestiegen. Experten sehen darin eine Normalisierung, warnen aber vor den anhaltenden Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft.
Die Zahl der Insolvenzen ist gesunken.
Im ersten Halbjahr sind die Insolvenzen stärker angestiegen als angenommen.Foto: Fernando Gutierrez-Juarez/dpa-Zentralbild/dpa
Von 27. August 2024

Anfang Juli meldete das „Handelsblatt“ (hinter einer Bezahlschranke) für das erste Halbjahr dieses Jahres über 40 Prozent mehr Insolvenzen bei Großunternehmen im Vergleich zum Vorjahr. Das seien mehr Zuwächse, als Experten zum Ende des letzten Jahres erwartet hatten, schrieb das „Handelsblatt“ weiter. Diese hatten ohnehin schon 30 Prozent mehr Insolvenzen erwartet. 

Die Wirtschaftszeitung hatte zuvor eine Analyse der Unternehmensberatung „Falkensteg“ in Auftrag gegeben, die den prozentualen Anteil der Insolvenzen ermittelte. Gleichzeitig, so die Analyse von Falkensteg weiter, sank die Erfolgsquote bei Sanierungsversuchen. 

Unternehmensrettung aus der Insolvenz schwieriger

Von 96 Verfahrenslösungen endeten 40 mit einer Betriebsschließung oder Masseunzulänglichkeit – ein Anstieg von 43 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, wie Falkensteg ermittelt hat. Eine Masseunzulänglichkeit stellt ein Insolvenzverwalter fest, wenn die Kosten des Insolvenzverfahrens zwar gedeckt sind, jedoch die Insolvenzmasse nicht ausreicht, um die sonstigen fälligen Masseverbindlichkeiten zu decken.

Wie Falkenberg weiter angibt, waren in den ersten sechs Monaten mehrere Branchen deutlich von Insolvenzen betroffen. Die Immobilienbranche verzeichnete mit 30 großen Insolvenzen einen Anstieg von 233 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Bei den Automobilzulieferern gab es 20 Insolvenzen, was einem Anstieg von 66,7 Prozent entspricht. Der Einzelhandel meldete 18 Insolvenzen, was einer Stagnation entspricht (0 Prozent Veränderung). Das Gesundheitswesen erlebte 17 Insolvenzen, ein Anstieg um 30,8 Prozent. Bei den Metallwarenherstellern gab es 16 Insolvenzen, was einem Zuwachs von 45,5 Prozent gleichkommt. Modeunternehmen sahen mit 14 Insolvenzen einen Rückgang um 22 Prozent. Schließlich registrierten die Maschinenbauer 13 Insolvenzen, was einem Anstieg von 44,4 Prozent entspricht.

„Die Rettung von Unternehmen aus der Insolvenz gestaltet sich zunehmend komplexer. Hohe Zinsen machen den Erwerb insolventer Firmen teurer oder unattraktiv. Ferner schrecken unsichere Umsätze aufgrund der allgemeinen Wirtschaftslage potenzielle Investoren ab“, kommentierte Jonas Eckhardt, Partner der Unternehmensberatung Falkensteg, die vorgelegten Zahlen.

In der ersten Hälfte des Jahres 2024 wurden 56 erfolgreiche Lösungen durch Unternehmensverkäufe oder Insolvenzpläne erreicht, während der Fünfjahresdurchschnitt bei etwa 63 Unternehmen liegt. Besonders stark betroffen waren Automobilzulieferer und der Maschinenbau. Dort lagen die positiven Ausgänge von Insolvenzverfahren um ein Drittel unter dem Durchschnitt, so die Analyse weiter. In den Branchen Mode und Einzelhandel verdoppelten sich die Betriebsschließungen im Vergleich zu den letzten fünf Jahren.

Höchster Stand seit fast zehn Jahren

Der Pleitegeier kreiste aber nicht nur über Großunternehmen. Auch die Wirtschaftsauskunftsdatei „Creditreform“ meldete für das erste Halbjahr dieses Jahres 11.000 Insolvenzen. Das ist ein Anstieg um fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum (8.470 Fälle), heißt es in der Pressemitteilung der Wirtschaftsauskunft.

„Die Insolvenzen in Deutschland haben den höchsten Stand seit fast zehn Jahren erreicht. Die Unternehmen kämpfen im ersten Halbjahr 2024 weiter gegen die Auswirkungen der Rezession 2023, anhaltende Krisen und die kraftlose konjunkturelle Entwicklung in diesem Jahr“, sagt Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Creditreform Wirtschaftsforschung. „Das alles zusammengenommen bricht vielen Betrieben das Genick“, so Hantzsch weiter.

Bundesregierung sieht noch kein „Alarmzeichen“

Die Bundesregierung versuchte sich im Juli auf Anfrage des „Handelsblattes“ in Beruhigung. Man nehme die Zahlen sehr ernst, sehe aber im langfristigen Vergleich noch keine Alarmzeichen, sagte eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums. Es gebe zwar eine verstärkte Dynamik, mit der auch das Vor-Corona-Niveau übertroffen sei – es sei aber keine breite Insolvenzwelle. Dennoch seien vorwiegend große und mittlere Unternehmen betroffen, so die Sprecherin weiter. 

Tatsächlich muss man bei der Einordnung der Insolvenzen verschiedene Aspekte berücksichtigen. Fachleute beurteilen den aktuellen Anstieg der Insolvenzen als eine Normalisierung des Insolvenzgeschehens. Der Wirtschaftsanwalt Professor Georg Streit, Partner im Münchner Büro der renommierten Wirtschaftskanzlei Heuking, verdeutlichte in einem Interview auf dem Blog der Anwaltssozietät „Schultze & Braun“, einer Kanzlei, die sich schwerpunktmäßig mit Restrukturierung von Unternehmen und Insolvenzverwaltung beschäftigt, die Entwicklung von Insolvenzen in den vergangenen Jahren. 

Laut Streit gebe es seit Herbst 2022 „einen deutlichen Anstieg der Zahl der Unternehmensinsolvenzen“. Streit weist weiter darauf hin, dass vor gut 15 Jahren im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise die Anzahl der Unternehmensinsolvenzen angestiegen sei. Danach sanken diese aber kontinuierlich und erreichten im Jahr 2021 (13.993 Fälle) den niedrigsten Stand seit Einführung der Insolvenzordnung im Jahr 1999. „Im Jahr 2023 war ungefähr wieder das Niveau des Jahres 2019 erreicht beziehungsweise sogar leicht übertroffen, also des letzten Jahres vor dem Eingreifen der Sondereffekte insbesondere der Corona-Pandemie“, so der Wirtschaftsanwalt. 

„Insolvenzflut“ bisher ausgeblieben

Während der Corona-Pandemie und der anschließenden Energiekrise hatten die Bundesregierung und die Länder eine Vielzahl von staatlichen Hilfspaketen für Unternehmen beschlossen. Ferner wurde zwischen März 2020 und Mai 2021 die Insolvenzantragspflicht für überschuldete Kapitalgesellschaften außer Kraft gesetzt. Mit dieser Maßnahme wollte die damalige Bundesregierung die damals von Experten befürchtete Insolvenzwelle verhindern.

Für Professor Streit sind diese „Sondereffekte der Corona-Pandemie und der Energiekrise“ jetzt überwunden. In den nun angestiegenen Zahlen sieht der Professor eine „Normalisierung des Insolvenzgeschehens“. Eine „Insolvenzflut“ sei bisher ausgeblieben. „In den nächsten Monaten und Jahren werden wir aufgrund der Effekte der Zinswende, der im internationalen Vergleich hohen Energiepreise und der schwachen Entwicklung der deutschen Wirtschaft mit einem weiteren Anstieg der Insolvenzen zu rechnen haben“, prognostiziert Georg Streit.

Schaut man auf die Zahlen des Statistischen Bundesamtes, so gab es im vergangenen Jahr 17.814 Unternehmensinsolvenzen. 2019, also vor Corona und der Energiekrise, lag die Zahl der Unternehmensinsolvenzen bei 18.749 Insolvenzen. In der Vergangenheit lagen die Insolvenzen tatsächlich höher: So mussten beispielsweise im Jahr 2000, nachdem damals die Dotcom-Blase geplatzt war, 28.235 Unternehmen Insolvenz anmelden. Nach der Weltfinanzkrise 2008 bis 2011 lag die Zahl der Unternehmensinsolvenzen jährlich um 30.000.  Es gingen in diesen Krisenjahren also doppelt bis dreimal so viele Unternehmen insolvent. 

Allerdings sind es heute zunehmend größere Unternehmen, die von einer Insolvenz betroffen sind. Das hat sofort größere Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft und Arbeitsplätze im Land.  

Nach aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) waren im Juli 2,81 Millionen Menschen arbeitslos. Das waren 82.000 mehr Menschen als im Juni. Im Vergleich zum Vorjahresmonat ist die Arbeitslosigkeit damit um 192.000 gestiegen. Die Arbeitslosenquote stieg damit um 0,2 Prozentpunkte auf 6,0 Prozent. „Der Anstieg fiel zum Beginn der Sommerpause deutlich stärker aus als üblich“, kommentierte die Bundesagentur damals die Zahlen. Auch die Nachfrage nach Arbeitskräften habe nachgelassen, heißt es weiter von der Arbeitsagentur. Im Juli waren 703.000 Arbeitsstellen bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) gemeldet, 69.000 weniger als vor einem Jahr.

Insolvenzwelle doch zu erkennen

Schon im Juni hatte die Bonitätsauskunft Crif ihre Prognose für die Anzahl der Firmeninsolvenzen erhöht. Das Unternehmen rechnet in seiner Analyse mit 20.500 Firmeninsolvenzen in diesem Jahr. Noch im März hatte Crif 19.800 Insolvenzen prognostiziert. 

„Zehn Monate in Folge gab es jetzt zweistellige prozentuale Zuwachsraten bei den Insolvenzzahlen. Es fällt daher zunehmend schwer, von einer nicht vorhandenen Insolvenzwelle zu sprechen”, kommentierte im Juni Frank Schlein, Deutschland-Geschäftsführer der Bonitätsauskunft Crif, im Juni die angehobene Insolvenzprognose. 

Die Voraussetzungen für die Unternehmen in Deutschland blieben auch weiterhin schwierig.

„Ein starkes Auslandsgeschäft oder eine wieder anziehende Inlandsnachfrage, die als Motor der heimischen Unternehmen hätten wirken können, blieben bisher aus“, so Schlein weiter. Eine „hohe konjunkturelle Dynamik“ sei nicht in Sicht. Zudem zeigte der private Konsum nur eine leichte Aufhellung und die geopolitischen Risiken bestünden weiter.

Höchste Insolvenzdichte in Berlin

Weiter schaute Crif auf die Insolvenzen in den einzelnen Bundesländern im ersten Quartal 2024. Demnach verzeichnete Berlin mit 28 Insolvenzen pro 10.000 Unternehmen die höchste Insolvenzdichte. Der bundesweite Durchschnitt lag bei 17 Insolvenzen je 10.000 Firmen. Neben Berlin überschritten auch Hamburg (22) sowie Nordrhein-Westfalen und das Saarland (jeweils 21) diesen Wert. Die niedrigste Anzahl an Unternehmensinsolvenzen gab es in den ersten drei Monaten des Jahres in Bayern, Brandenburg und Thüringen, jeweils mit zwölf Insolvenzen pro 10.000 Unternehmen. In absoluten Zahlen führten Nordrhein-Westfalen (1.311), Bayern (717) und Baden-Württemberg (624) die Liste der Firmeninsolvenzen an.

Mecklenburg-Vorpommern verzeichnete mit einem Anstieg von 83,7 Prozent den stärksten Zuwachs. Auch in Brandenburg (plus 50,7 Prozent), Sachsen (plus 39,2 Prozent) und Rheinland-Pfalz (plus 37 Prozent) nahmen die Insolvenzen deutlich zu. Einzig im Saarland gingen die Unternehmensinsolvenzen um 4,9 Prozent zurück.



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