Grüne Ministerin im VW-Aufsichtsrat: „Ich habe gar kein Auto“

Rot-Grün regieren in Niedersachsen über zwanzig Prozent eines automobilen Weltkonzerns.
Titelbild
Volkswagen-WerkFoto: über dts Nachrichtenagentur
Von 10. November 2022

Knapp einen Monat nach der Landtagswahl wurde in Hannover am vergangenen Dienstag die neue rot-grüne niedersächsische Landesregierung vereidigt.

Ministerpräsident Stephan Weil geht damit bereits in die dritte Runde. An seiner Seite als stellvertretende Ministerpräsidentin steht die 1987 geborene grüne Kultusministerin Julia Willie Hamburg. Die zweifache Mutter wird neben Weil auch einen der beiden Aufsichtsratsposten im Volkswagenkonzern besetzen.

Laut Information der Niedersächsischen Staatskanzlei heißt es dazu:

„Die Landesregierung hat in ihrer Sitzung am (heutigen) Dienstag beschlossen, die stellvertretende Ministerpräsidentin Kultusministerin Julia Willie Hamburg in den Aufsichtsrat der Volkswagen AG zu entsenden. (…)  Das Land Niedersachsen ist unmittelbar sowie mittelbar über die Hannoversche Beteiligungsgesellschaft Niedersachsen mbH mit 20 Prozent an der Volkswagen AG beteiligt. Nach § 11 Abs. 1 der Satzung der Volkswagen AG ist das Land Niedersachsen berechtigt, zwei Mitglieder in den Aufsichtsrat der Gesellschaft zu entsenden, solange dem Land „unmittelbar oder mittelbar mindestens 15 Prozent der Stammaktien der Gesellschaft gehören.“

Eine Personalie, die in den berichtenden Medien für Aufregung sorgt und Fragen aufwirft:

Wer ist Frau Hamburg, wofür steht sie, wie möchte sie sich bei Volkswagen einbringen und wie steht die Volkswagen-affine Region dazu?

Hamburgs auf der Seite der Partei veröffentlichter Lebenslauf wurde unter anderem mit solchen Sätzen garniert:

„Ich bin Mitglied des FC Sankt Pauli und würde echt gerne mal wieder ins Stadion.“

Nun weiß man, dass St. Pauli ein hanseatischer Verein ist. Für die Hannoveranerin wäre eigentlich Hannover 96 die natürliche Fußball-Adresse. Aber St. Pauli macht sich mutmaßlich besser in einer linksgrünen Vita: Am Millerntor weht die Piratenflagge, seit „Autonome, Neohippies und Altlinke“ aus dem Hafenstraßen-Milieu das Stadion zum Treffpunkt der Szene machten.

Wer sich also außerhalb von Hamburg zu St. Pauli bekennt, der gibt damit ein politisches Statement ab. Es besteht allerdings dringender Tatverdacht, dass die niedersächsische Ersatzministerpräsidentin entlang ihres Nachnamens eine persönliche Sympathie für St. Pauli hegt.

Trägt Frau Hamburg die Totenkopfflagge der St. Paulianer jetzt in den Volkswagenvorstand? Was haben Regierungsmitglieder dort überhaupt verloren?

Eine Spurensuche:

Zwischen Harz und Heide sind die Menschen mit Volkswagen verheiratet. Hier sind die geöffneten Werktore vergleichbar einer Grubenfahrt im Ruhrpott. Wo bei den Kumpeln längst Schicht im Schacht ist, sind beim Automobilbauer die Bypässe allerdings weiterhin gelegt, das Maschinenherz pumpt fleißig weiter Wohlstand ins Land.

In den Traditionsstammwerken Wolfsburg und Braunschweig hat die rasante Umstellung des Unternehmens auf Elektromobilität bis heute keine anhaltende Panik ausgelöst. Die Löhne sind überdurchschnittlich geblieben, die Region lebt weiterhin sehr gut von Volkswagen, viele Zulieferbetriebe profitieren.

Aber auch hier sägt der Zeitgeist an langen Zöpfen. Wer in diesen Tagen mit Volkswagen-Mitarbeitern spricht, der muss schon ein paar alte Hasen erwischen, um noch diesen Duft der Werkbänke und Maschinenöle vermischt mit einem unverrückbaren Glauben an die klassische Mobilität Made by Volkswagen zu erwischen.

Der Streit um die Volkswagen-Currywurst fand in den Medien viel lauter statt, längst hat die vegane Küche Einzug gehalten in die Kantinen, Fleisch wird nach und nach verbannt. Eine Art Ausschleichung. Die Mitarbeiter wünschten es so, berichtet der Konzern. Dennoch bedurfte es in Wolfsburg einer Intervention der Arbeitnehmervertretung, als die Wurst ganz aus dem Sortiment verschwand. Schwupps, war sie wieder da.

Schaut man sich auf dem alten Betriebsparkplatz des Werkes in Braunschweig um, dann fällt auf, dass hier mittlerweile geschätzt ein Fünftel der Fläche mit Ladesäulen für Elektromobilität bestückt wurden. Aber ein belebter  Ladebetrieb sieht anders aus: Verwaiste Flächen, Leerstand bis zum Horizont, mal hier und dort ein einsamer Elektrischer am Ladekabel, sonst riecht es nach Benzin wie schon vor über siebzig Jahren an selber Stelle.

Der Volkswagen Konzern will als Ganzes betrachtet werden. Unter einem Dach versammeln sich hier große Marken wie Audi und Porsche. Ebenso Platz gefunden haben Seat und Skoda und so divenhafte Luxusgeschöpfe wie Bentley, Bugatti und Lamborghini. Im Nutzfahrzeugbereich sind MAN und Scania Teil der Familie.

Diese Aufzählung hier ist notwendig, will man die Besetzung eines Aufsichtsratspostens der Volkswagen AG mit einer bekennenden grünen Fahrradfahrerin Julia Willie Hamburg wirklich verstehen.

Frau Hamburg wurde mit Beschluss der niedersächsischen Landesregierung in den Aufsichtsrat gewählt. Die 36-Jährige ist damit das jüngste Mitglied an der Spitze des Konzerns. Dort löst sie den bisherigen niedersächsischen Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) ab. Zweiter Vertreter der niedersächsischen Landesregierung im Kontrollgremium bleibt der alte und neue Ministerpräsident Stephan Weil (SPD).

Möglich ist das, weil das Land Niedersachsen zwanzig Prozent der Stimmrechte des Automobilkonzerns hält. Über das sogenannte VW-Gesetz hat das Land ein Vetorecht „bei Fragen von besonderer strategischer Tragweite, etwa der Eröffnung oder der Schließung eines Standortes“.

Hier die historische Zusammenfassung im Schnelldurchlauf:

1949 hatte die britische Militärregierung den Konzern in die Treuhandschaft des Landes übergeben. 1960 wurde der Betrieb privatisiert und in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Mit der Besonderheit des besagten VW-Gesetzes.

Ursprüngliche Idee dahinter war es, eine feindliche Übernahme einer deutschen Schlüsselindustrie zu verhindern. Dem Land Niedersachsen wurde eine Sperrminorität zugesichert, also ein Vetorecht eingeräumt, bei Abstimmungen bestimmte Beschlüsse verhindern zu können.

Die EU klagte mehrfach gegen dieses Gesetz. Die Kommission hatte zuletzt allerdings verlautbaren lassen, dass sie nach einem EuGH-Urteil zugunsten des VW-Gesetzes die Sache jetzt auf sich beruhen lasse. Man darf annehmen, dass hier viel Lobbyarbeit notwendig war, die EU zu veranlassen, ihre Krallen wieder einzufahren.

Der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident und spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder hielt noch im Kanzleramt seine schützende Hand über Volkswagen, als er 2002 Angriffe auf den Anteil des Landes am Konzern folgendermaßen abschmetterte:

„Das sage ich sehr bestimmt an die Adresse der Brüsseler Kommissare: Wer diese Kultur zu zerschlagen sucht, muss mit dem Widerstand der Bundesregierung jedenfalls so lange rechnen, wie wir etwas zu sagen haben.“

Der jetzt wiedergewählte Ministerpräsident Stephan Weil, auch ein Hannoveraner Sozialdemokrat wie Schröder, hatte 2017 für eine Art Eklat gesorgt, als bekannt wurde, dass er seine Regierungserklärung zur Dieselaffäre mal eben den Juristen von Volkswagen zur Prüfung vorgelegt hatte. Die Kontrolle des Landes über den Konzern erschien damals merkwürdig verdreht, sah eher wie eine Kontrolle des Konzerns über die Regierung aus.

Auf Bundesebene gelang es Kräften aus der Union schon damals nicht, das VW-Gesetz unter dem Eindruck von Dieselgate zu kippen. Stephan Weil (SPD) wurde erneut Ministerpräsident seines Landes, nach einer Episode mit der Union koaliert er im dritten Durchgang wieder mit den Grünen, wie schon zwischen 2013 und 2017 einmal.

Bei aller Aufregung um den Aufsichtsratsposten für die grüne Fahrradministerin wurde von den Medien etwas übersehen: Die Grünen hatten schon einmal 2013 mit ihrem Spitzenkandidaten Stefan Wenzel alle Gelegenheiten, einen der Ihren an der Seite von Stephan Weil auf einen der zwei reservierten Stühle im Aufsichtsrat zu setzen. Aber das Rennen machte der damalige und jetzt erneut das Amt des Wirtschaftsministers bekleidende SPD-Politiker Olaf Lies.

Warum die Grünen damals noch auf den prestigeträchtigen Posten verzichteten? Die Automobilwoche mutmaßte, dass SPD und Grüne hier gekungelt hätten:

„In der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover kursiert die Vermutung, dass sich die Sozialdemokraten für die zuvor von ihnen nicht erwartete Überlassung von vier statt drei Ministerposten an die Grünen im Gegenzug unter anderem das zweite VW-Ratsmandat haben zusagen lassen.“

So viel zur Bedeutung eines Aufsichtsratspostens, der für die Politik deutlich mehr zu sein scheint als nur eine dekorative Position mit Prestige.

Im zweiten Anlauf erobern die Grünen den Aufsichtsrat

Heute, fast zehn Jahre später, hat es die Grüne Julia Willie Hamburg auf den VW-Stuhl neben Weil geschafft. Und sie macht wie nebenbei auch noch etwas für die Quote. Denn schon 2013 forderte Parteifreund Wenzel eine Gender-Quote im Aufsichtsrat und wurde dafür postwendend vom VW-Betriebsratschef und Aufsichtsratsmitglied Bernd Osterloh angegriffen, der ihm gleich in mehreren Belangen und mit hochgezogener Augenbraue ein „gesundes Halbwissen“ attestiert hatte.

Wer hier in der Region schon über Generationen tätig ist, der erinnert sich vielleicht noch an die puristisch-anmutenden Automobil-Prospekte, die Vati einmal im Jahr mit nach Hause brachte, um den Jahreswagen auszuwählen. Mutti durfte immer die Farbe auswählen, aber es musste schon eine Metallic-Lackierung sein.

Ministerin Julia Willie Hamburg schreibt in ihrer Vita, ihr Vater hätte sich sehr viele Sorgen um Tschernobyl gemacht. Weiter heißt es da:

„Ich habe kein Auto, fahre gerne Rad und gehe gerne wandern. Ich liebe Comics und eigentlich lese ich sehr gern – finde nur viel zu selten die Zeit dafür.“ 

Auf neuem Posten im Aufsichtsrat wird’s für Ministerin Hamburg mit dem Comic-Lesen nicht einfacher werden. Abschließend noch ein Blick in das Wahlprogramm der Grünen in Niedersachsen und welche Umbaupläne und -ideen die Ministerin mit in den Aufsichtsrat bringt:

 „Zur Wahrheit gehört aber auch: Durch die Umstellung auf E-Mobilität, durch Automatisierung, Digitalisierung und einen Umbau des Geschäfts kommt es auch bei VW mittelfristig zu einem Abbau von Arbeitsplätzen. Auch viele mittelständische Zulieferbetriebe verlieren mit dem Aus der Verbrennungsmotoren ihr bisheriges Geschäftsfeld, sodass sich Unternehmen komplett umstellen müssen. Auf der anderen Seite steigt durch die Energie- und Verkehrswende der Bedarf an Industrie-Know-how und Fachkräften immer weiter an. Es gilt, den Strukturwandel nicht einfach geschehen zu lassen, sondern ihn aktiv zu gestalten.“

Und Ratschläge für die Bevölkerung in Sachen Mobilität gab es im Wahlprogramm der Grünen ebenfalls bereits reichlich“

„Gehen hält gesund, hebt die Stimmung und viel begangene Straßen beleben unsere Städte und Gemeinden. (…) Wir fördern die Anschaffung von Lastenrädern und Fahrradanhängern. Dazu erweitern wir das bisherige Landesförderprogramm für gewerbliche und private Nutzer*innen und bauen es aus.“



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