„Dramatische Unterauslastung“: VW kappt Nachtschichten
Die zähe Lieferkrise bei Mikrochips und weiteren wichtigen Elektronik-Bauteilen zwingt Volkswagen ab Mitte April voraussichtlich zur Streichung nahezu sämtlicher Nachtschichten am Stammsitz Wolfsburg.
Das wurde am Freitag internen Firmeninformationen zufolge in einer Sitzung der Arbeitszeitkommission deutlich. Demnach dürfte in der größten Autofabrik der Welt in der Zeit nach den Osterfeiertagen (17./18. April) vorerst nur noch auf einer Montagelinie auch nachts gearbeitet werden – überall sonst greift dann wohl ein Zwei- statt Dreischichtbetrieb.
Hintergrund ist der Teilemangel bei Halbleitern. Dieser führt seit Monaten in der gesamten Industrie zur Versorgungsengpässen und blockiert insbesondere in der Fahrzeugbranche Produktion und Auslieferungen.
Spürbare Folgen
Bei VW ist von einer „dramatischen Unterauslastung des Stammwerks“ die Rede, die jetzt spürbare Folgen für das Schichtsystem habe. So fallen den Plänen des Managements zufolge demnächst alle Nachteinsätze der Beschäftigten in der Golf-Fertigung weg. Beim ebenfalls stark nachgefragten Klein-SUV Tiguan ist eine komplette Linie betroffen. Weiterlaufen soll nachts zunächst nur die Arbeit an der Montagestrecke, die neben dem Touran und Tarraco auch für das restliche Tiguan-Volumen zuständig ist.
Der Betriebsrat äußerte sich reserviert. „Wir haben diese Vorhaben des Unternehmens zur Kenntnis genommen“, meinte die Vorsitzende Daniela Cavallo. Sie hatte angesichts der Versorgungsprobleme von der Konzernleitung um Vorstandschef Herbert Diess bereits im Herbst ein entschlosseneres Gegensteuern statt neuer Spardiskussionen gefordert.
Cavallo betonte nun: „Unsere Kolleginnen und Kollegen können nichts dafür, dass die Auftragsbücher überquellen, wir aber wegen des Halbleitermangels nicht auf die nötigen Stückzahlen kommen.“ Sollten die Nachtschichten inklusive der entsprechenden Zuschläge wegfallen, habe die Belegschaft Anspruch auf einen Ausgleich für den Gehaltsverlust. „Etwas Anderes wird mit uns nicht zu machen sein.“
„Halden“ halbfertiger Fahrzeuge
Über das ganze Jahr 2021 hinweg waren bei VW, aber auch anderen Autokonzernen wochen- oder monatsweise Schichten ausgefallen. Die Kurzarbeit nahm wieder zu, nachdem die Branche zuerst geglaubt hatte, die ärgsten Ausfälle durch den Corona-Nachfrageeinbruch überwunden zu haben. Aber viele neue Bestellungen konnten wegen Materialmangels nicht abgearbeitet werden – Beschäftigung fiel weg, Leiharbeitnehmer mussten schon gehen. Es bildeten sich „Halden“ halbfertiger Fahrzeuge auf dem Werksgelände.
VW-Personalvorstand Gunnar Kilian erklärte, nötig sei ein Wechsel des Wolfsburger Schichtmodells: „Die aktuelle Situation ist für alle Beteiligten keine tragfähige Lösung. Um die Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten und Beschäftigung nachhaltig zu sichern, ist eine Anpassung unausweichlich.“ Es sei eine „strategische Kernaufgabe, den Standort weiter zukunftssicher auszurichten“. Der Wegfall von Erschwerniszulagen für die Nachtschicht gehöre leider dazu.
Gespräche könnten schwierig werden
Auch zu letzterem Punkt dürfte es intensive Verhandlungen geben. Cavallo kündigte an: „Wir kämpfen für einen Teilausgleich. Fallen Nachtschichten und damit Zuschläge weg, muss der Entgeltverlust abgefedert werden.“ Die Gespräche könnten schwierig werden. Zudem stehe Abstimmungsbedarf in weiteren Fragen an: „Geraten Schichtpläne in Bewegung, zieht das vieles nach sich.“ Die Debatte über eine generelle Flexibilisierung des Arbeitszeitsystems in der Fertigung – von Cavallo parallel zu neuen Homeoffice-Regelungen in der Verwaltung angestoßen – dürfte erst einmal zurücktreten.
Der nach Toyota zweitgrößte Autohersteller der Welt musste 2021 Absatzrückgänge wegstecken. Die Auslieferungen der Kernmarke VW Pkw sanken um 8,1 Prozent, für die gesamte VW-Gruppe ging es um 4,5 Prozent abwärts. Besonders am Stammsitz Wolfsburg waren die Produktionseinbußen groß. Am Ende bedeuteten die weniger als 400.000 gefertigten Wagen etwa eine Stückzahl wie zuletzt 1958.
Der Betriebsrat gab im Rückblick auf die Vereinbarungen des Spar- und Umbauprogramms „Zukunftspakt“ zu bedenken: „Laut Vorgabe hätte das Stammwerk zuletzt eine hohe sechsstellige Zahl an Fahrzeugen produzieren müssen, mindestens 820.000 Stück. Laut Versprechen des Unternehmens aus dem Jahr 2018 hätte sogar das Millionenziel in den Fokus rücken müssen.“ Von solchen Zahlen ist man in Anbetracht der fehlenden Chips in Wolfsburg weit entfernt. (dpa/red)
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