Draghi: Europa hat den wirtschaftlichen Anschluß verloren

Europas Wirtschaft ist zu langsam, zu statisch. Und investiert zu wenig. Mario Draghi fordert neue Investitionen in Höhe von 800 Milliarden Euro pro Jahr in die Wirtschaft – und empfiehlt die Aufnahme neuer Gemeinschaftsschulden wie bei Corona.
Italiens Ministerpräsident Mario Draghi will als Konsequenz aus einer Regierungskrise zurücktreten.
Italiens Ministerpräsident Mario Draghi erstellte im Auftrag von Ursula von der Leyen einen strategischen Bericht zur Lage der Wirtschaft in Europa.Foto: Massimo Di Vita/Mondadori Portfolio via ZUMA/dpa
Epoch Times9. September 2024

Der frühere italienische Regierungschef und Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, hat die Europäische Union zu Milliardeninvestitionen in die Wirtschaft aufgerufen.

Angesichts der Konkurrenz aus den USA und China warnte Draghi die Europäer vor einer „existenziellen Herausforderung“. Ohne höhere Produktivität könne Europa nicht „führend bei neuen Technologien, Leuchtturm der Klimaverantwortung und unabhängiger Akteur auf der Weltbühne“ sein.

Auch das europäische Sozialmodell sei dann nicht mehr finanzierbar, schrieb der Italiener im Vorwort zu seinem Strategiebericht zur EU-Wettbewerbsfähigkeit. Draghi stellte seine Studie gemeinsam mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor, die den Bericht in Auftrag gegeben hatte.

Erneute Gemeinschaftsschulden aufnehmen

Nötig seien „zusätzlich jährliche Mindestinvestitionen von 750 bis 800 Milliarden Euro“, schreibt Draghi. Dafür empfahl er die Aufnahme neuer Gemeinschaftsschulden wie zuletzt in der Corona-Pandemie.

Auch von der Leyen nannte Instrumente zur Gemeinschaftsfinanzierung wichtig. Möglich seien aber auch sogenannte Eigenmittel, zu denen Einfuhrzölle und die EU-Plastikabgabe zählen, sagte die Deutsche auf die Frage, wie sie den Widerstand der Bundesregierung gegen neue Gemeinschaftsschulden überwinden wolle. Darüber müssten die Mitgliedsländer entscheiden.

In der Corona-Pandemie hatte die EU ein kreditfinanziertes Hilfspaket von 750 Milliarden Euro geschnürt. Länder wie Italien und Frankreich fordern seitdem ein neues Paket und berufen sich auf die gestiegenen Ausgaben für Verteidigung und Klimaschutz.

Für Deutschland oder die Niederlande sind Gemeinschaftsschulden eine rote Linie.

Milliarden wie ein Marshall-Plan

Der Italiener beziffert die nötigen Zusatz-Investitionen in die europäische Wirtschaft darin auf 4,4 bis 4,7 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 2023. Das sei mehr als das Doppelte der Hilfen aus dem Marshall-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg.

Konkret benennt er in seinem Plan als einige Schlüsselelemente die Senkung der Energiepreise, die Entwicklung fortschrittlicher Technologien, einen Plan zur Erreichung der Klimaziele, die Stärkung der Verteidigungskapazitäten sowie die Sicherung wichtiger Rohstoffe.

Mit Blick auf Sektoren mit hohem Treibhausgasausstoß wie Schwerindustrie und Verkehr rief Draghi die EU auf, ihre Klimapolitik besser zu justieren.

Wenn alle politischen Maßnahmen mit den Klimazielen übereinstimmten, sei es „sehr wahrscheinlich, dass die Dekarbonisierung eine Wachstumschance ist“, sagte Draghi vor Journalisten. „Aber wenn wir uns nicht abstimmen, besteht die Gefahr, dass die Dekarbonisierung der Wettbewerbsfähigkeit und dem Wachstum zuwiderläuft.“

Schwachstellen: Europa hat den Anschluß verloren

Europa müsse die wichtigsten Schwachstellen angehen: Verringerung der Abhängigkeit von China bei wichtigen Mineralien, Aufbau einer „Außenwirtschaftspolitik“ zur Sicherung wichtiger Lieferketten sowie die Nutzung heimischer Ressourcen durch Abbau, Recycling und Entwicklung alternativer Materialien.

Gegenüber den USA und China sei Europa wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten. Die US-Wirtschaft sei heute 50 Prozent größer als die der EU, obwohl sie vor 15 Jahren noch gleichauf waren.

In der EU befürchten viele, dass hiesige Unternehmen den Anschluss verlieren könnten. So hatte dieses Jahr bereits ein anderer Bericht, festgehalten: „Während das Pro-Kopf-BIP in den USA zwischen 1993 und 2022 um fast 60 Prozent gestiegen ist, betrug der Anstieg in Europa weniger als 30 Prozent.“

Draghi führt dies nun vor allem auf den Technologiesektor zurück. „Europa hat die durch das Internet ausgelöste digitale Revolution und die damit verbundenen Produktivitätsgewinne weitgehend verpasst“, heißt es in seinem Bericht.

Die EU sei schwach bei neuen Technologien, die das künftige Wachstum antreiben würden. Nur vier der 50 größten Technologieunternehmen der Welt seien europäische Unternehmen.

Im Konkurrenzkampf mit Firmen aus Nordamerika und Asien muss die europäische Wirtschaft nach Ansicht von Draghi zudem deutlich innovativer werden. Europa stecke in einer statischen Industriestruktur fest, schreibt der 77-Jährige. Es tauchten nur wenige neue Unternehmen auf, die die bestehenden Industrien veränderten oder neue Wachstumsmotoren entwickelten. (afp/dpa/red)



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