Die Kostenwelle rollt

Benzin, Diesel und der 1. Juni. Auftragsstau in der Industrie. Versteckte und offene Inflation im Einzelhandel – ein Blick auf die Verteuerungen.
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Verbraucherschützer warnen vor versteckter Inflation, beispielsweise, wenn der Inhalt bei gleicher Verpackungsgröße geringer wird. Hannibal Hanschke/Getty Images)
Von 20. Mai 2022

Im April lagen die Großhandelspreise 23,8 Prozent über dem Vorjahreswert von April 2021. Dieser Anstieg ist laut dem Statistischen Bundesamt der stärkste Anstieg seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1962.

Die Gründe tragen den Namen Energiewende, Dekarbonisierung, Klimaschutz, COVID-19, unterbrochene Lieferketten, Ukraine-Krieg, politische Entscheidungen wie Sanktionen, Lockdowns in China und anderes. Viele Rohstoffe und Vorprodukte haben sich stark verteuert. Nicht unterschätzt werden sollten die gestiegenen Logistikkosten.

Run auf die Tankstellen am 1. Juni befürchtet

Mineralölerzeugnisse verteuerten sich im April 2022 verglichen mit April 2021 im Großhandel um 63 Prozent, feste Brennstoffe um 71 Prozent.

Anfang des Jahres wurde beschlossen, möglichen sozialen Protesten (wie einer Gelbwesten-Bewegung ähnlich wie in Frankreich) zuvorzukommen und die Menschen zu entlasten. Ein Part des beschlossenen Entlastungspakets der Ampelkoalition bezieht sich auf Kraftstoffe.

Ab dem 1. Juni wird es beim Tanken einen Rabatt geben, die Energiesteuer wird um 14 Cent bei Diesel und 30 Cent pro Liter Benzin gesenkt. Ob die Tankstellen den gesamten Betrag an ihre Kunden weitergeben, entscheiden diese selbst.

Der ADAC befürchtet für den 1. Juni Chaos an den Tankstellen. Ob alle Zapfsäulen mit ausreichend Benzin und Diesel versorgt werden können, wenn Autofahrer das nächste Volltanken bis dahin hinauszögern, sei dahingestellt. Auch Tankstellenbetreiber warnen vor Engpässen und langen Schlangen. Dahinter steckt: Die Betreiber müssen sich jetzt mit Sprit zu den derzeit höheren Preisen bevorraten und ihn dann ab 1. Juni günstiger abgeben.

Das Entlastungspaket der Bundesregierung enthält auch das 9-Euro-Ticket im öffentlichen Nahverkehr, eine einmalige Energiepauschale von 300 Euro für alle Steuerpflichtigen, einen einmaligen Hartz-IV-Zuschuss von 200 Euro und einen einmaligen Kindergeldbonus (100 Euro pro Kind).

Auftragseinbruch in der Industrieproduktion

Für die deutsche Industrie wird ein Einbruch der Aufträge im März um 4,7 Prozent längere Auswirkungen mit sich bringen. Maschinen- und Anlagenhersteller meldeten einen Rückgang um 8,3 Prozent. Das Geschäft mit Ländern außerhalb des Euroraumes läuft besonders schlecht (-13,2 Prozent). Innerhalb der EU nimmt das Interesse an deutschen Maschinen- und Anlagen zu (+5,6 Prozent), was jedoch den Einbruch nicht ausgleichen kann. 

„Große Verunsicherung aufgrund des Krieges in der Ukraine, steigende Energie- und Rohstoffpreise und eine sich eintrübende Weltkonjunktur führen zur Zurückhaltung bei den Bestellungen“, kommentiert Jupp Zenzen, Konjunkturexperte des Deutschen Industrie- und Handelskammertages. 

Während Thomas Götze, Chefvolkswirt der VP Bank, vermutet, dass die Sommermonate „für die deutsche Industrie vermutlich zu einer Durststrecke“ führen, spricht das Ifo-Institut davon, dass sich ein rekordverdächtiger Berg von unerledigten Aufträgen angesammelt hat.

Der Stau aufgrund von Rohstoffmangel und fehlenden Vorprodukten würde sich erst in viereinhalb Monaten auflösen. Normal seien im langjährigen Durchschnitt Wartezeiten von 2,9 Monaten. Besonders betroffen ist die Autoindustrie inklusive Zulieferern, hier beträgt der lauernde Auftragsberg über sieben Monate. Timo Wollmershäuser, Leiter der Ifo-Konjunkturprognosen, spricht davon, dass die Produktion durchstarten könnte, wenn sich die Lieferengpässe durch China auflösen. Die Chance darauf sei allerdings eher gering.

Metallische Rohstoffe, die Deutschland fast vollständig importiert, verteuerten sich im Großhandel mit Erzen, Metallen und Metallhalbzeug um 55,7 Prozent. In der chemischen Industrie erhöhten sich die Kosten um 44,4 Prozent, jeweils verglichen mit dem Vorjahresmonat.

Thema Getreide

Indien, der zweitgrößte Weizenproduzent der Welt, hat verkündet, dass es den Export von Weizen verboten hat. Daraufhin stieg der Preis für eine Tonne Weizen am 17. Mai auf 437 Euro. Neu Delhi begründete das Exportverbot mit den Auswirkungen der derzeitigen Hitzewelle im Land auf die Ernte und der eigenen Versorgungssicherheit. 

Als absolut wichtig gilt das Land als Weizenexporteur für die Welt nicht, die Hälfte der indischen Exporte geht ins benachbarte Bangladesh. Mit dem Ausfall der Ukraine im landwirtschaftlichen Bereich steigt allerdings Indiens Bedeutung. Ursprünglich wollte Indien seine Weizenexporte von sieben auf rund zehn Millionen Tonnen steigern und darüber der Weltbevölkerung helfen.

Deutschland bezog im Jahr 2021 nur zwei Prozent des insgesamt importierten Getreides aus der Ukraine (1,9 Prozent) und Russland (0,1 Prozent). Die vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Verteuerungen bei Getreide können neben der hohen Nachfrage auf dem Weltmarkt auch auf massiv gestiegene Düngemittelpreise und die Agrarpolitik zurückgeführt werden.

Wie haben sich die Getreidepreise in Deutschland entwickelt? Die Einfuhrpreise für Getreide im Großhandel erhöhten sich im März 2022 um mehr als die Hälfte – 53,6 Prozent. Alle Getreidearten sind betroffen.

Mehr oder weniger verdeckt sind Preiserhöhungen auch im Supermarkt angekommen. Im April bezahlten die Verbraucher für landwirtschaftliche Produkte im Einzelhandel rund 8,6 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Im Vergleich zum März stiegen die Preise um 3,6 Prozent. 

Besonders betroffen waren Speisefette und -öle (+27,3 Prozent), auch Fleisch und Getreideprodukte wurden deutlich teurer. Die niedrigsten Preisanstiege gab es laut Statistischem Bundesamt bei Obst – „nur“ um 2 bis 3 Prozent.

Nach Angaben von Verbraucherschützern könnte es eine Welle verdeckter Preiserhöhungen bei Produkten des täglichen Bedarfs geben. Hersteller würden versuchen, über weniger Inhalt in gleich großen Verpackungen die Inflation zu verstecken. Ein weiteres Inflationsphänomen sei die sogenannte „Qualitätsanpassung“ von Waren, bei der auf billigere Zutaten zurückgegriffen wird. Die Qualität der Produkte verschlechtere sich.

Folgt ein Hochschaukeln von Preisen und Löhnen?

Der Preisanstieg schürt bei vielen Menschen die Befürchtung, dass sie ihre stetig steigenden Lebenshaltungskosten nicht mehr bezahlen können. Über Lohnerhöhungen wird bereits nachgedacht. Als erste Gewerkschaft preschte die IG Metall vor, sie forderte für die anstehende Lohnrunde im Herbst eine Lohnerhöhung von 8,2 Prozent. Die Tarifverhandlungen begannen in der Stahlindustrie am 13. Mai.

„Das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale ist eindeutig größer geworden, weil davon auszugehen ist, dass die Inflation länger bleibt und sich dies in den Inflationserwartungen niederschlägt“, meint Hagen Lesch vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Das gefürchtete Hochschaukeln von Löhnen und Preisen könnte aus der Kostenwelle eine schwer aufzuhaltende Lawine machen.



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