Arbeitskräftemangel trotz hoher Zuwanderung: „Deutsche Wirtschaft vor schwierigem Jahrzehnt“

Deutschland steht wirtschaftlich vor einem schweren Jahrzehnt. Zu diesem Ergebnis kommt das Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel. Das Institut prognostiziert weiter, dass es zu größeren Verteilungskonflikten in Deutschland kommen wird.
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Das Institut für Weltwirtschaft (IfW) sieht auf Deutschland ein schweres Jahrzehnt zukommen.Foto: Maurizio Gambarini/dpa
Von 23. März 2023

Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands wird nachhaltig durch höhere Energiepreise beeinträchtigt. Dadurch verschärft sich der bereits eingetretene demografisch bedingte Rückgang der Wachstumsdynamik. Laut der aktuellen Mittelfristprojektion des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel sinkt der deutsche Wirtschaftswachstumspfad auf nur noch 0,4 Prozent pro Jahr, was etwa einem Drittel des früheren langjährigen Durchschnitts entspricht.

Stefan Kooths, Konjunkturchef und Vizepräsident des IfW Kiel, sagt: „Deutschland steht vor einem schwierigen Jahrzehnt, das von Verteilungskonflikten stärker geprägt sein wird als bisher.“ Er fügt hinzu: „In Zukunft müssen weniger Menschen in Deutschland unter schwierigeren Bedingungen Wohlstand erwirtschaften. Gleichzeitig steigt die Anzahl derjenigen, die im Alter Leistungen aus den Sozialkassen beziehen, ohne wesentlich zur Finanzierung beizutragen, insbesondere im Gesundheits- und Rentensystem.“

Arbeitskräftemangel: Bevölkerung schrumpft trotz hoher Zuwanderung

Bis 2027 verringert sich der Wachstumspfad der deutschen Wirtschaft auf nur noch 0,4 Prozent pro Jahr und erreicht damit etwa ein Drittel des früheren langjährigen Durchschnitts von rund 1,3 Prozent. Die Hauptgründe dafür sind die Alterung der Gesellschaft und der damit verbundene Arbeitskräftemangel sowie die Belastung durch strukturell höhere Energiepreise.

Im Jahr 2024 wird der Höhepunkt auf dem Arbeitsmarkt mit 45,9 Millionen Beschäftigten erreicht. Danach verlassen mehr Menschen das Erwerbsleben, als neue hinzukommen. Im Durchschnitt verliert der deutsche Arbeitsmarkt dann fast 200.000 Erwerbstätige pro Jahr. Trotz einer jährlichen Zuwanderung von etwa 350.000 Menschen aus dem Ausland, was im historischen Vergleich sehr hoch ist, schrumpft die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter.

Maßnahmen wie bessere Kinderbetreuung oder flexiblere Arbeitszeitmodelle können den Rückgang der Arbeitskräfte zwar abmildern, aber nicht aufhalten. Die Arbeitszeit pro Erwerbstätigem nimmt ebenfalls ab, was auf steigende Teilzeitquoten und einen sinkenden Anteil an Selbstständigen zurückzuführen ist, die überdurchschnittlich lange arbeiten.

Mittelfristig höhere Energiepreise sind eine der größten Herausforderungen

Eine der größten Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft sind die mittelfristig höheren Energiepreise. Dies hat Auswirkungen auf die Wachstumsaussichten, da wichtige Inputfaktoren knapper und teurer werden. Obwohl Energie ein wesentlicher Produktionsfaktor ist, wird er in den gängigen Schätzverfahren nicht explizit berücksichtigt, was es schwierig macht, die genauen Auswirkungen zu quantifizieren. Bei normaler Auslastung der Produktion könnte das mögliche Produktionsvolumen mittelfristig um knapp 80 Milliarden Euro pro Jahr niedriger ausfallen als vor Beginn der Pandemie. Diese Abwärtsrevision wird hauptsächlich den Folgen der Energiekrise zugeschrieben.

Laut Stefan Kooth ist es nun wichtig, dass die Wirtschaftspolitik diejenigen Standortfaktoren stärkt, die sie selbst beeinflussen kann, um die Wachstumskräfte zu stärken. Dazu zählen unter anderem die Qualität des Bildungssystems und der Infrastruktur, die Zweckmäßigkeit der Regulierung, unbürokratische staatliche Abläufe, eine angebotsorientierte Energiepolitik sowie eine maßvolle Abgabenquote, die im internationalen Standortwettbewerb um Fachkräfte entscheidend ist.

Dekarbonisierungsinvestitionen auf absehbare Zeit wachstumsdämpfend

Kooth bezeichnet Erwartungen an positive Wachstumseffekte durch Dekarbonisierungsinvestitionen als unrealistisch. Mit „Dekarbonisierung“ ist gemeint, dass die Industrie so schnell wie möglich von der Nutzung fossiler Brennstoffe wie Kohle, Erdgas oder Öl auf kohlenstofffreie und erneuerbare Energiequellen umsteigen soll. Diese Investitionen führen in erster Linie zum Umbau vorhandener Produktionskapazitäten und nicht zum Aufbau neuer Kapazitäten. Daher wirken sie auf absehbare Zeit eher wachstumsdämpfend. Obwohl einige Branchen davon profitieren, verlieren andere Branchen knappe Ressourcen. Die für das vom Wirtschaftsminister ausgerufene „gigantische Beschäftigungsprogramm“ benötigten Arbeitskräfte sind bereits jetzt knapp, weshalb sie nur aus anderen Branchen rekrutiert werden können, die dann weniger produzieren. Auf diese Weise lasse sich kein Wirtschaftswunder herbeiführen, so Kooth.

Das IfW Kiel schätzt in seiner Mittelfristprojektion die Wirtschaftsleistung in Deutschland bei normaler Auslastung der Produktionsstrukturen. Dieses sogenannte Produktionspotenzial beschreibt den mittel- bis langfristigen Wachstumspfad der deutschen Wirtschaft und wird durch technologischen Fortschritt, mehr Arbeitskräfte und Investitionen erhöht. Allerdings können bürokratische Hemmnisse oder unrentable Produktionsstrukturen das Potenzial schmälern. Das tatsächliche Bruttoinlandsprodukt in einem Jahr weicht in der Regel vom Produktionspotenzial ab. In wirtschaftlichen Boomzeiten kann es das Potenzial überschreiten, während es in der Rezession darunterliegt, wenn beispielsweise Mitarbeiter in Kurzarbeit gehen und Maschinen stillstehen.



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