Virologe Streeck: Kein Grund mehr für Corona-Sonderstellung
Der Bonner Virologe Prof. Dr. Hendrik Streeck hat einen anderen Umgang mit dem Corona-Virus gefordert. Es gelte mehr über „Gebote zu sprechen als über Pflichten“, sagte Streeck im Gespräch mit „Focus online“.
Aus virologischer Sicht sei die Pandemie vorbei, bestätigte das Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung. Dies habe unter mehreren Experten bereits vor Wochen Thomas Mertens gesagt, der Chef der Ständigen Impfkommission (STIKO). Auch der Charité-Chefvirologe Prof. Christian Drosten hatte sich an Weihnachten in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ sinngemäß geäußert. „Es gibt aus meiner Sicht keinen Grund mehr, Corona eine Sonderstellung zu geben“, so Streeck. „Wir müssen hier langsam aber stetig eine Angleichung an die anderen Erreger wagen.“
Maskenpflicht im Fernverkehr „Augenwischerei“
Er halte „die Maskenpflicht im Fernverkehr“ für „nicht zielführend“ und „Augenwischerei“, weil im Fernverkehr „nie große Infektionsherde beobachtet worden“ seien – „ganz im Gegensatz zum Beispiel zu Bars oder Restaurants, wo längst keine Einschränkungen mehr gelten“, gab Streeck zu bedenken. Ein „Isolationsgebot“ wäre nach Streecks Einschätzung besser als eine Isolationspflicht. Denn auch in den Bundesländern, in der die Isolationspflicht gestrichen worden sei, sehe man „derzeit keinen Anstieg an Krankheitsfällen“.
Streeck plädierte dafür, Krankenhäusern und Alten- oder Pflegeheimen „ihre eigenen Regeln“ für den Schutz ihrer Patienten erstellen zu lassen und auf bundes- oder landesweite Regelungen zu verzichten. „Die wissen genau, wie man die Patienten oder Bewohner am besten schützt“, ist Streeck überzeugt.
Das Virus sei mittlerweile „heimisch“ geworden, sagte Streeck: Ähnlich wie bei anderen heimischen Corona-Viren, die für Husten und Schnupfen sorgten, sei auch bei COVID-19 mit Infektionswellen zu rechnen, die im Herbst und Winter anstiegen und im Frühjahr wieder abfielen. „Aufgrund der hohen Grundimmunität und Omikron macht es aber nicht mehr so schwer krank wie zu Beginn der Pandemie“, betonte Streeck im „Focus“-Interview. Andere Erreger wie „Influenzaviren oder RSV“ kämen zurzeit „viel stärker durch“. Man müsse weiter beobachten, wie sich das Corona-Virus einreihe. Er gehe davon aus, dass die STIKO ähnlich wie bei Grippe-Wellen „zum Herbst und Winter immer wieder den Über-60-Jährigen eine Auffrischungsimpfung“ zu COVID-19 empfehlen werde.
Streeck: „[…]aufhören in Lagern zu denken“
Es sei es an der Zeit für „eine ehrliche und besonnene Aufarbeitung“ der vergangenen Jahre, meinte Streeck: „Wenn wir wirklich aus der Pandemie lernen wollen, müssen wir aufhören in Lagern zu denken und Menschen mit anderer Meinung als Gegner zu sehen“, forderte Streeck.
Es gehe ihm nicht darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern Corona als „Katalysator“ zu nutzen, „um den Debattenraum in Deutschland zu verändern und den Umgang zwischen Gesellschaft, Wissenschaft und Politik wieder mehr in die Fugen zu bringen“. Bei der Aufarbeitung müsse es um Selbstkritik gehen, aber auch um „Lob für das, was letztlich erfolgreich war und somit zum Vorbild für künftige Prozesse taugt“, erklärte Streeck. Als „das eigentliche Problem“ betrachte er zurzeit „unser akut reformbedürftiges Gesundheitssystem“ mit seinem Mangel an qualifizierten Fachkräften.
Lauterbach und Scholz gegen vorzeitiges Maßnahmen-Ende
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte sich noch am 27. Dezember im ZDF skeptisch gegen ein vorzeitiges Aus für alle Maßnahmen geäußert: „Da kommt es doch jetzt nach drei Jahren Pandemie auf ein paar Wochen nicht an“, sagte Lauterbach mit Verweis auf die kritische Situation in den Krankenhäusern: „Wir dürfen hier nicht aufs Glatteis gehen.“ Gleichwohl stimmte er grundsätzlich „der wissenschaftlichen Einschätzung von Herrn Drosten“ und anderen Wissenschaftlern zu, die das Ende der pandemischen Lage festgestellt hatten. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erteilte Rufen nach einem vorzeitigen Ende aller Maßnahmen ebenfalls eine Absage.
Verfassungsexperten kontra Lauterbach
Der Augsburger Verfassungsrechtsexperte Josef Franz Lindner hat dazu eine andere Meinung: „Eine Maßnahme, die sich nicht mehr rechtfertigen lässt, muss sofort aufgehoben werden, nicht erst in ein paar Wochen oder Monaten“, forderte Lindner in der „BILD“-Zeitung. Wenn Überprüfungen feststellten, dass beispielsweise die Maskenpflicht zur Bekämpfung von Corona nicht mehr erforderlich sei, müsse sie sofort aufgehoben werden, nicht erst am 7. April. Eine Maskenpflicht in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen könne man wahrscheinlich noch rechtfertigen, stellte Lindner klar, eine „Maskenpflicht im ÖPNV oder im Fernverkehr der Bahn hingegen eher nicht mehr“.
Definitiv unzulässig ist es nach Einschätzung von Lindner, die Aufrechterhaltung von Maßnahmen nicht mehr mit Corona zu begründen, sondern mit dem Schutz vor anderen Atemwegserkrankungen: Das Infektionsschutzgesetz erlaube „eine Maßnahme wie die Maskenpflicht ausschließlich ‚zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19)‘ – nicht hingegen zum Schutz gegen andere Atemwegsinfektionen.“
Auch der Oldenburger Verfassungsrechtsexperte Prof. Volker Boehme-Neßler hält Lauterbachs Denkansatz laut „Bild“ für eine „Unverschämtheit“ und für einen „verfassungsrechtlichen Hammer“. Er befürchte einen Umgang mit den Grundrechten nach dem Prinzip „Wenn die Maßnahmen schon einmal da sind“ und erinnerte daran, dass es vor der Corona-Krise undenkbar gewesen sei, „eine Maskenpflicht zum Schutz vor Grippe“ einzuführen.
Woidke für baldiges, einheitliches Aus
Auch der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) fordert inzwischen eine bundesweit abgestimmte Regelung für ein mögliches Ende der Corona-Schutzmaßnahmen. „Wenn es zutrifft, was Herr Drosten und viele andere Fachleute sagen, scheint es sinnvoll, dass wir bald auf alle Maßnahmen verzichten können“, sagte Woidke in Potsdam auch Nachfrage der „Deutschen Presseagentur“ (dpa). Von einem „Überbietungswettbewerb“ unter den Ländern halte er aber nichts: „Gerade solche Alleingänge haben immer wieder für große Verunsicherung in der Bevölkerung gesorgt.“
Die Brandenburger Verordnung inklusive Isolationspflichten und FFP2-Maskenpflicht in Innenräumen von Gemeinschaftsunterkünften und in öffentlichen Bussen und Bahnen des Nahverkehrs gilt auf Wunsch des Brandenburger Kabinetts noch bis zum 11. Januar. Sie war noch kurz vor Weihnachten bis zu diesem Datum verlängert worden.
In Sachsen-Anhalt und Bayern lief eine entsprechende Regelung für die Busse und Bahnen des Nahverkehrs bereits in den ersten Dezember-Tagen 2022 aus, in Schleswig-Holstein zum 31. Dezember.
Die Corona-Regeln des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) laufen nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums bundesweit erst zum 7. April 2023 aus – es sei denn, der Bundestag stimmt einer Änderung zu. Bis dahin können deutschlandweit Masken-Tragepflichten im öffentlichen Fernverkehr und für Besucher von Krankenhäusern, Pflegeheimen und Arztpraxen verhängt bleiben – als Teil des Maßnahmenpakets §28a IfSG.
(Mit Material der Nachrichtenagenturen)
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