Auf dem Jakobsweg in Deutschland

Von Rothenburg ob der Tauber nach Rottenburg
Titelbild
Der Weg ist das Ziel. (Eckehard Kunkel)
Von 25. September 2009

Richtig, den Jakobsweg gibt es auch in Deutschland, nicht nur in Spanien, es gibt ihn in fast ganz Europa. Einige davon sollen Kraftwege sein, zum Beispiel von Tübingen rüber zur Wurmlinger Kapelle, irgendwer soll da auch entsprechende Strahlungen gemessen haben. Für mich ist das nicht wichtig, ich mache eine Sorte Qi Gong, die sich der Energien aus dem Kosmos bedient.

Mein Jüngster, Petar, hatte die Idee, den Jakobsweg zu gehen. Er hatte diesen Hape Kerkeling „Ich bin mal eben weg“ gelesen und das Buch eines Rollstuhlfahrers. Ich wusste, dass Santiago de Compostela energetisch tot ist, seit sie die unterirdischen Wasserkanäle trocken gelegt haben. Auch das ist für mich nicht wichtig, aber ich nehme an, dass zumindest die Wallfahrten der früheren Pilger wegen der Energie dort hin führten.

Ich freute mich darüber, dass Petar mich fragte, ob ich Lust hätte, mit ihm auf dem Jakobsweg zu pilgern. Petar ist Neunzehn. Gut, aber deshalb gleich nach Spanien zu fahren, fand ich zu riskant, es gibt ja auch hier in Deutschland Jakobswege und das ist dann nicht so teuer, wenn Petar nach ein paar Tagen einknickt. Dass mir das passiert, dachte ich eher nicht, schließlich bin ich dieses Frühjahr einen Halbmarathon mit gelaufen und dabei von 3.500 Läufern als 2.681. ins Ziel gekommen.

So planten wir eine Strecke für acht Tage, Samstag bis Samstag: Rothenburg bis Tübingen.  Acht Etappen mit achtzehn bis dreißig Kilometern, insgesamt knapp 200 Kilometer. Nichts für Ungeübte. Ich dachte mir schon, das kostet Kraft, mit zehn Kilo auf dem Rücken Berg rauf, Berg runter, Berg rauf. Man konnte sicher sein, stünde irgend ein Berg in der Landschaft, dann ging da auch der Pilgerpfad rüber. Eine Reise ins Außen? Nein, muss nicht.

Schön zusammen

Nachmittags kommen wir in Rothenburg an. Frohgemut wandern wir los, immer den Wegezeichen nach, der stilisierten gelben Jakobsmuschel auf blauem Hintergrund. Eine Stunde später. Es ist heiß, die Sonne brennt. Wandern ist nicht so richtig der passende Ausdruck, wir schleichen in der Nachmittagshitze dahin. Ein Wegezeichen mit Entfernungsangabe. Petar erschrickt. „Wie, erst vier Kilometer gelaufen? Das dauert ja ewig bis wir  ankommen!?“ – „Mit dem Tempo wird das wohl so sein.“ Von da an marschierten wir flotter.

Bilder, Landschaften, Straßen, die Wälder, Dörfer schieben sich ineinander. Die zeitliche Reihenfolge gerät auch durcheinander.  Da ist viel Zeit zum Geschichten erzählen. Petar erzählt mir, ich erzähle ihm. Von früher, als ich so alt war wie er. Oder wie ich seine Mutter kennen gelernt habe.

Dritter Tag. Petar stapft vor mir den steilen und regennassen Waldweg hinauf. Er trottet langsam bergauf. Ich spüre unangenehm das Gewicht meines Rucksacks. Wenn wir weiter so langsam voran kriechen, spüre ich das noch ewig. Etwas missmutig stapfe ich an Petar vorbei, um zumindest ein bisschen das Tempo zu erhöhen. „Bist du genervt?“ fragt er mich nach einer Weile. Ich weiche gerade einer größeren tiefen Pfütze aus. „Ja, etwas“, gebe ich ein wenig widerwillig zu.  „Weil du so langsam bist, aber ich weiß ja, du machst das nicht, um mich zu ärgern, du kannst nicht mehr.“ Schweigend stapfen wir weiter den Berg hoch, über den Gipfel, aus dem Wald hinaus in Felder. Den ganzen Tag über keine  Menschenseele, abgesehen von ein paar Dorfbewohnern, die uns kurz nachschauen. Noch auf dem Weg sagt er: „Das heute ist meine Grenzerfahrung.“ Nach dem vierten Tag gibt er auf. „Was wirst du machen?“ fragt er mich. Dass es so anstrengend wird, hatte ich nicht gedacht. Verlockend, hier aufzuhören, Beine hoch und mit dem Zug nach Hause. Aber wann ist wieder eine Gelegenheit, den Jakobsweg zu gehen? Ich bin auch etwas traurig, dass Petar nicht mehr kann. „Ich laufe weiter“, sage ich dann.

Er stieg vor der langen Etappe mit den dreißig Kilometern aus. Morgens mache ich wie jeden Tag meine vier Qi Gong Übungen, frühstücke. Petar schläft noch. Ich packe meinen Rucksack. Petar wacht auf. Draußen regnet es. Ich warte noch, vielleicht hört es gleich auf. Ich schaue Petar beim Frühstücken zu, eine unserer privaten Gastgeberrinnen macht ihm das Angebot, hier einen Tag Pause zu machen und von ihr zur nächsten Etappe gefahren zu werden. Zwecklos, sein Entschluss steht. Der Regen hört nicht  auf. Ich werfe den Poncho über, umarme Petar und laufe in den Regen, den Berg hoch. Ich bin ein bisschen traurig.

Schön alleine

Gehen-gehen-gehen, wo ist Ich? Gibt keins, das Bündel aus Vorlieben und Abneigungen ist verschwunden, ein Beobachter ist da, der dieses zur Kenntnis nimmt. Das über Stunden. Da wird festgestellt, Hungergefühl, jaja, demnächst Rast. Dann war schon eine Weile bergab kein Zeichen. In die Wegbeschreibung schauen, wieder zurück den Berg hoch zum letzten Zeichen, das Ich ist wieder da mit Beschimpfungen für die Leute, die die Zeichen für einen mittelmäßig intelligenten Menschen wie mich nicht deutlich genug angebracht haben.

Nach dreißig Kilometern Ankunft bei einem älteren Pilger-Ehepaar, das schon in Santiago de Compostela war und  jetzt noch einmal die Nord-Südroute in Spanien geht. Sie sind noch 200 Kilometer vor Santiago. Jakobsweg-süchtig? Vielleicht. Sie geben kostenlos Quartier für Pilger. Frühstück drei Euro und Bettzeug vier. Ein freundliches Doppelzimmer mit zwei Betten. An der Tür ein Plakat mit dem Namen der Pilgerin als Rednerin bei einem Vortrag: Muslime verstehen. Beim Frühstück kommen sie darauf zu sprechen, dass man inzwischen viele verschiedene Menschen auf dem Jakobsweg findet, Muslime, Buddhisten… Ich gebe mich als Buddhist zu erkennen. Das Gespräch geht weiter wie bisher. Sie  erzählt von der Kathedrale von Chartres, bei der sie durch Sondergenehmigung das Gestühl weggeräumt bekam, um das Labyrinth begehen zu können.

Abschied mit Erinnerungsfoto und auf den Markt von Winnenden verproviantieren, Brot alle, Käse alle. Mehr gibt es unterwegs nicht, vielleicht noch einen Trink-Joghurt und eine Banane.  Die Käseverkäuferin hat Plastikfolie vergessen. Eine Käuferin zu ihr: „Man ist auch nur Mensch.“ Zwischen Bestellung erfragen und Käse abwiegen erklärt mir die Verkäuferin: „Mit anderen kann ich geduldig sein, mit mir nicht. Dabei weiß ich, nur wenn ich geduldig mit mir bin, kann ich das auch mit anderen. Und um das zu verstehen musste ich fünfzig Jahre alt werden. – Wo geht es denn hin?“ – „Jakobsweg.“ – „Habe ich mir gleich gedacht, als ich Sie gesehen habe, na, dann Gottes Segen mit Ihnen.“ Ich danke, verpacke sorgfältig den Käse im Rucksack, schwinge ihn mir über und stapfe  aus  dem Marktlärm in die Stille des Waldes.

Jeden Morgen wird es etwas schwerer, die Beine aus dem Bett zu schwingen. Wo bin ich denn heute? Ah, Studentenhotel, Frühstück acht Uhr. Ich freue mich auf das Frühstücksei und die Studenten. Doch vorher noch eine Stunde meine Qi Gong Übungen eins bis vier. Die Fünfte mache ich wieder zu Hause. Das verspreche ich mir. Abends nach des Tages Mühen tun mir die Beine zu weh, als dass ich mich überreden kann, sie im Doppel-Lotus zu verknoten.

Frühstück mit weich gekochtem Ei und ohne Studenten. Als ich mit meinem Rucksack am Ess-Saal vorbei zum Ausgang pilgere, tauchen die ersten Studenten auf. 

Ankommen

Letzte Etappe. Ja, in Kirchen war ich auch. Letzter Tag. Gut, dass ich danach noch ein paar Tage Urlaub habe, das komplizierte moderne Leben mit Arbeit war ganz aus meinem Gesichtskreis verschwunden. Da waren nur Wald, Felder, Dörfer, Hunger, meine Beine, Nachtquartier und meine Gedanken. Berg rauf, klar, wieder Berg runter, rein in den Wald, raus aus dem Wald, an einem Naturlehrpfad  vorbei und dann – ich nähere mich Tübingen. An dem Lehrpfad muss ich erkennen, dass ich Petar falsch belehrt habe. Was ich ihm als Roggen zeigte, ist Gerste, alles andere war auch falsch, nur der Hafer stimmte.

Plötzlich sind da ganz viele Leute. Jogger,  Walker, Radfahrer mit Kind und Hund. Naja, ganz viele Leute, so alle zehn bis zwanzig Minuten einer oder ein Grüppchen. In der Stadt auf dem Marktplatz, wo ich auf Renate warte, die uns hier Nachtquartier gibt, sind es dann viele. Fußgängerzone und lautes Stimmengewirr. Hunger, wir gehen Essen. Sie will natürlich wissen, wie es war. Zwischen den einzelnen Bissen von Penne Arabiata-Nudeln erzähle ich und bin nach einer Stunde Reden erschöpfter als von einem Tag Gehen.

Von ihrem Balkon aus ist die Wurmlinger Kapelle zu sehen, eine Zwischenetappe Richtung Rottenburg. Das wären noch zwölf Kilometer. Das ist nur noch so ein kleiner Happen, den schenke ich mir. Glücklich sinke ich in Renates Wohnzimmer auf dem Sofa in die Kissen.



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